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Knabe mit Jugendlocke



Knabe mit Jugendlocke


Inventar Nr.: Sk 138
Bezeichnung: Knabe mit Jugendlocke
Künstler / Hersteller: unbekannt
Datierung: 60 - 90 n. Chr., neronisch - flavisch
Epoche/Stil:neronisch - flavisch (GND: 118586998 / 11863089X)
Objektgruppe: Skulptur
Geogr. Bezüge: Römisches Reich
Material / Technik: Gelblich-weißer, feinkörniger Marmor
Maße: 20 cm (Höhe)
Provenienz:Erworben 1988 im Kunsthandel H. A. Cahn, Basel


Katalogtext:
Der lebensgroße Kopf eines kleinen Jungen wendet sich mit einer Neigung leicht nach rechts. Er hat eine kubische Grundform mit weit ausladendem Hinterkopf. Die obere Stirnpartie wölbt sich nach außen, ebenso der Oberkopf über den leicht eingesenkten Schläfen. Das Gesicht des Jungen ist länglich und breit. Er hat weiche, etwas hängende Pausbacken. Seine Kinnpartie ist abgerundet. Die Nase geht in annähernd waagerecht verlaufende, gratige Brauenbögen über. Die knappen Orbitale sind durch feine Kerben von den schmalen wulstartigen Lidern abgesetzt. Sie rahmen große mandelförmige Augen, die asymmetrisch gebildet sind und beinahe flache Augäpfel aufweisen. Die Tränenkanäle sind schwach angedeutet. Der sanft abfallende Nasenrücken geht weich in die Wangenpartie über. Der schmallippige Mund mit sehr feiner Lippenspalte deutet ein Lächeln an. Die Mundwinkel sind weich in das Gesicht eingetieft. Die Oberlippe springt leicht vor. Eine sanfte Grube bildet den Übergang zu dem noch wenig ausgeprägten Kinn. Das Gesicht zeigt insgesamt eine glatte weiche Oberfläche mit fließenden Übergängen zwischen den einzelnen Gesichtspartien, die im Untergesicht leicht zu verschwimmen scheinen. Der Bildhauer hat sich um eine naturgetreue Wiedergabe kleinkindhafter Merkmale bemüht und dem Gesicht des Jungen einen versonnenen Ausdruck verliehen.

Kurze dicke Sichellocken aus mehreren feinen Strähnen rahmen die Stirn. Über der Stirnmitte sind sie voluminöser und reichen tiefer hinab. Vom Oberkopf her sind längere Haarsträhnen nach vorne gestrichen, so dass sich ein kleiner Bausch bildet. Die meisten Stirnlocken sind nach links gerichtet, über dem linken Auge läuft ein Büschel nach rechts, so dass die Spitzen dort wie eine breite flache Zange ineinandergreifen. Kurze Locken reichen bis vor die Ohren herab. Auf dem Oberkopf trägt der Junge längere voluminöse Locken, die ebenfalls in mehrere feine Strähnen unterteilt sind. Sie fließen in breiten Wellen zur Stirn hin. Zwischen den einzelnen Strähnen bleiben kleine glatte Flächen. Während plastisch-voluminöse Locken auch die linke Kopfseite und den Nacken bedecken, ist das Haar auf der rechten Kopfseite etwas flacher ausgearbeitet. Es bildet insgesamt eine dichte weiche Masse ohne feste Ordnung, so dass die Frisur etwas zerwühlt wirkt. Die Locken überschneiden sich, ihre Spitzen rollen sich teilweise ein. Über den Hinterkopf jedoch fließen lange Haarsträhnen in feinen flachen Wellen. Sie bedecken dort eine beinahe runde Fläche und sind im Nacken zu einem dünnen Zöpfchen zusammengebunden, das auf dem kurzgelockten Nackenhaar aufliegt.

Die Frisur des Jungen mit einer langen Locke am Hinterkopf stammt ursprünglich aus dem ägyptischen Kulturkreis. Sie orientiert sich am Vorbild des Gottes Horus. In seiner Erscheinungsform als kindlicher Sohn der ägyptischen Gottesmutter und Schutzgöttin Isis trägt er eine ähnliche ›Jugendlocke‹ seitlich am Kopf. Die Haartracht war auch bei ägyptischen Kindern geläufig. Die Frisur kennzeichnet den Kasseler Kopf als Bildnis eines Jungen, der als Baby oder Kleinkind der Göttin Isis geweiht worden ist. Das Kind wird auf diese Weise durch die Göttin ›adoptiert‹ und steht unter ihrem besonderen Schutz. Außerdem garantiert sie ihm ewiges Leben im Jenseits. Die Frisur kann von Jungen bis zu ihrem 14. Lebensjahr getragen werden, d. h. bis zu ihrem offiziellen Eintritt ins Erwachsenenalter (Gonzenbach 1957, 102 ff.; Goette 1989; Felgenhauer 1996; Borg 1998). Die Ausführung der langen Locke als Zöpfchen am Hinterkopf tritt jedoch eher selten auf (Goette 1989, 216 D 1–2). Der Isiskult breitete sich während der hellenistischen Zeit im gesamten Mittelmeerraum aus und fasste seit dem späten 2. und während des 1. Jhs. v. Chr. auch in Italien Fuß. Nachdem der römische Staat zunächst versucht hatte, ihn zu verbieten, gewann er in der Kaiserzeit verstärkt Anhänger, auch in den oberen Gesellschaftsschichten bis hinein in das Kaiserhaus und erfreute sich offizieller Förderung (Lembke 1994, Felgenhauer 1996).

Die weiche Gesichtsmodellierung des Kasseler Kopfes ist bereits bei claudischen Kinderporträts geläufig (Gercke 1968, Amedick 1991, Felgenhauer 1996). Eine zarte plastische Gestaltung der Oberfläche, bei der die einzelnen Gesichtspartien weich ineinander übergehen, kennzeichnet jedoch auch noch die Kinderporträts neronischer und flavischer Zeit (Gercke 1968, Felgenhauer 1996). Im Unterschied zur Haargestaltung der claudischen Epoche sind die Locken des Kasseler Kopfes nicht mehr einzeln klar abgegrenzt und kantig gebildet, sondern sie sind als weiche, fließende Masse wiedergegeben. Eine derartige Gestaltung ist charakteristisch für die flavische Zeit, in der auch eine insgesamt längere Kopfform mit ausladendem Oberkopf und wenig ausgeprägtem Kinn anzutreffen ist (Gercke 1968). Ein Knabenporträt in Kopenhagen, das in die flavische Epoche datiert wird (Poulsen 1974, Johansen 1995), ist dem Kasseler Bildnis in der Haargestaltung, der Kopfform, sowie der Bildung der Augen-, Nasen- und Mundpartie eng vergleichbar. Daher erscheint eine neronisch-flavische Datierung des Kasseler Knabenporträts möglich.

Bei seinen Auftraggebern handelte es sich wohl um die Eltern des Jungen, die ebenfalls Anhänger des Isiskultes waren. Sie gehörten vermutlich den oberen sozialen Schichten an, da sie sich die Weihung eines zudem bildhauerisch qualitätvollen Porträts ihres Sohnes leisten konnten (Felgenhauer 1996).

Die Bildnisse mit Jugendlocke stellen häufig früh verstorbene Kinder dar. Sie wurden im Grabbezirk der Familie oder in ihrem Haus aufgestellt (Gonzenbach 1957, 106; Gercke 1968; Goette 1989). Darin kommt die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Göttin dem Kind ein glückliches Weiterleben im Jenseits schenken möge. Auch eine Aufstellung im Heiligtum der Isis wäre denkbar (Goette 1989). Dort konnten Bildnisse von Kindern zu ihren Lebzeiten ihre Weihung dokumentieren oder auch Dank für die Hilfe der Gottheit ausdrücken (Gercke 1968).

(Zimmermann-Elseify 2007)



Literatur:
  • Felgenhauer, Annette: Ägyptische und Ägyptisierende Kunstwerke. Staatliche Museen Kassel. Vollständiger Katalog. Kassel 1996, S. 218-221, Kat.Nr. 103.
  • Gercke, Peter; Zimmermann-Elseify, Nina: Antike Skulpturen und Neuzeitliche Nachbildungen in Kassel. Bestandskatalog. Mainz 2007, S. 239.240, Kat.Nr. 76.


Letzte Aktualisierung: 05.11.2018



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