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Bogenschießender Apollon



Bogenschießender Apollon


Inventar Nr.: Sk 112
Bezeichnung: Bogenschießender Apollon
Künstler / Hersteller: unbekannt
Datierung: 30 - 50 n. Chr.
Objektgruppe: Skulptur
Geogr. Bezüge: Römisches Reich
Material / Technik: Weißgrauer, mittelkristalliner Marmor
Maße: 33,5 cm (Höhe)
34,5 cm (Breite)
9,5 cm (Dicke)
Relieftiefe bis 4,5 cm (Tiefe)
Bodenleiste 4 cm (Höhe)
Provenienz:Erworben 1960. (Aus Slg. C. Klügmann, Rom)


Katalogtext:
In der typischen Haltung eines Bogenschützen kauert Apollon auf felsigem Boden in Dreiviertelansicht nach rechts auf der linken Ferse; das rechte Bein ist vorgestreckt, den Fuß mit ganzer Sohle aufsetzend. Beide Arme sind in Schulterhöhe nach rechts ausgestreckt, Hände und Waffe fehlen.

Anstelle der für sterbliche und heroische Bogenschützen zumeist üblichen skythischen oder griechischen Kriegertracht (Brinkmann 2003), ist dieser barhäuptige Schütze mit einem Himation bekleidet, das mit seinen Stau- und Knickfalten mehr enthüllt als bedeckt. Es ist um den linken Arm geschlungen und im Rücken herabgeglitten, führt gebauscht um den Unterkörper herum nach vorn und bedeckt das angewinkelt untergeschlagene rechte Bein. Ein Zipfel des Gewandes liegt auf dem Felsen zwischen den Beinen, das andere Ende hängt vom linken Arm herab. Die Draperie verstärkt die Tiefenstaffelung des Bildes: Sie betont die vordere Raumschicht des leicht auswärts gerichtetenen Beines, der bogige Bausch umrundet die mittlere Raumschicht mit Rumpf und Kopf, das vom linken Arm beidseitig herabhängende Gewand schließt wie ein Vorhang am Reliefgrund die hintere Raumschicht ab.

Da Bogen und Hände – bis auf den Ansatz der rechten Hand – weggebrochen sind, bedarf die Haltung der fast parallel ausgestreckten Arme der Erklärung.

Zum einen werden schussbereite Bogenschützen seit archaischer Zeit mit einem horizontal zur Seite angewinkelten Arm dargestellt, dessen Hand den Pfeil auf der schussfertig gespannten Sehne hält. Parallel ausgestreckte Arme bei gleichzeitiger Schrägführung von Schultern und Rumpf – wie bei diesem Relief – zeigt der Schütze nicht beim Schuss, sondern wenn er einen Pfeil auf die Sehne legt. Demzufolge wird hier nicht die Aktion des Schießens selbst, sondern die Bereitschaft und Fähigkeit zu schießen dargestellt. Mit dieser Erklärung wäre das narrative Element der Handlung klassisch sublimiert zu einer Metapher von Handlungspotenz. Zum anderen kann vermutet werden, dass der geringe Unterschied zwischen dem horizontal gestreckten linken Arm und dem leicht durchgebogenen vorderen Arm vor allem der tiefenräumlichen Komposition innerhalb der begrenzten Möglichkeiten reliefplastischer Darstellung geschuldet ist.

Die bildhauerische Ausführung des qualitativ durchschnittlichen Reliefs wird übereinstimmend in die frühe Kaiserzeit datiert (Lullies 1979). Das Himation mit parallel geführten Faltenbahnen verhüllt den bedeckten Körper. Die rundrückigen Faltenstege, begleitet von Faltenrinnen, und die kurvigen Säume lassen das Gewand stofflich dicht und die Formgebung als ein wenig teigig erscheinen. All dies ist charakteristisch für die neronische Zeit (vgl. z. B. die Bogen-, Zugfalten und Säume des Mantels der weiblichen Gewandstatue Olympia L 144: Yalouris 1993).

Die archäologische Forschung hat dank ikonographischer Wiederholungen dieser Figur im Kontext mit weiteren Figuren auf römischen Marmorreliefs seit längerem erkannt, dass der Bogenschütze Apollon darstellt, wie er mit seiner Zwillingsschwester Artemis an 12 von 14 Kindern der Niobe die tödliche Bestrafung wegen frevelhafter Hybris der Mutter vollzieht. Bruchstückhafte Reliefbilder mit variierenden Figuren in verschiedenen Bildsequenzen römischer Zeit gestatten, die Figuren als Kopien nach einer klassisch-griechischen Vorlage zu bestimmen. Übereinstimmung herrscht auch darüber, dass Pausanias (5, 11, 1–10) dieses Bildthema in seiner Beschreibung des kolossalen Kultbildes des thronenden Zeus in Olympia erwähnt. Pheidias und seine Mitarbeiter in Olympia haben es aus Gold, Elfenbein und vielen anderen kostbaren Materialien nach Vollendung des Athener Parthenon (432 v. Chr.) geschaffen. Pausanias hat die Niobidenfriese seitlich unter den Armlehnen des Throns, wahrscheinlich auf den seitlichen Verblendungen und Wangen der Sitzfläche gesehen. Sie waren vermutlich aus Elfenbein und goldgefasstem Holz als Einzelstücke geschnitzt und aneinander auf einem dunklen Reliefgrund (Ebenholz?) montiert. Über die Anordnung der Figuren zu zwei Bildfolgen mit je einer Gottheit, die auf eine Reihe von jeweils sieben teils vergeblich flüchtenden Niobiden schießt, konnte mangels Befunden noch keine endgültige Festlegung getroffen werden. Die Größe des Kasseler Reliefs scheint der Originalgröße zu entsprechen, denn die geschätzte Länge eines jeweils achtfigurigen Frieses in dieser Größe stimmt mit der errechneten Länge zwischen den Thronbeinen resp. den seitlichen Wangen des Sitzkissens (max. 2,30 m) ziemlich passend überein.

Aus welchem Fries, Figurenkontext oder Funktionszusammenhang diese römische Kopie stammt, konnte bisher nicht erschlossen werden. Aber im Vergleich mit den Bildwiedergaben auf dem Londoner Marmordiskus und dem Pozzuoli-Relief wird unser Fragment motivisch und auch stilistisch – im Rahmen einer mittleren Kopienqualität – für zuverlässig erachtet (Berger 1962).

Das Motiv des kauernden Bogenschützen ist seit archaischer Zeit in Statuen und Reliefs überliefert. Einen Vergleich bieten zeitnahe Vorbilder wie die Lapithen auf den großformatigeren und fast rundplastisch ausgearbeiteten Südmetopen Nr. 8 und 30 (spiegelbildlich) des Parthenon 448–438 v. Chr. (Boardman 1987). Das Himation unseres kleinen Reliefs steht in seiner Stoffdichte, Faltengebung und folienhaften Drapierung dem Gewand der um 430 v. Chr. datierten sterbenden Niobide in Rom nahe. Eine vergleichbare Gewandbehandlung zeigt das etwas jüngere, um 410–400 v. Chr. datierte Grabrelief des Sosinos in Paris. Für die ungewöhnliche Haartracht unseres kleinen Apollon mit den von der Stirn zur Seite und nach hinten gestrichenen Locken ist auf die fast kappenartige Frisur des Apollon auf dem parthenonischen Ostfries zu verweisen. Diese zum Vergleich herangezogenen griechischen Originale stützen die Einordnung des verlorenen Vorbildes unseres Apollo-Reliefs um 420 v. Chr. und stärken die ikonographisch gewonnene Zuweisung an die olympischen Niobidenreliefs.

(Gercke 2007)



Literatur:
  • Gercke, Peter; Zimmermann-Elseify, Nina: Antike Skulpturen und Neuzeitliche Nachbildungen in Kassel. Bestandskatalog. Mainz 2007, S. 296-298, Kat.Nr. 97.


Letzte Aktualisierung: 29.03.2023



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