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Redner Lykourgos (?)



Redner Lykourgos (?)


Inventar Nr.: Sk 110
Bezeichnung: Redner Lykourgos (?)
Künstler / Hersteller: unbekannt
Datierung:
Datierung:augusteisch (GND: 4076778-4 / Datiert nach Römischem Reich)
Griechisches Vorbild:um 300 v. Chr.
weitere Datierung:30 - 50, claudisch (nach Schefold; Gauer)
Objektgruppe: Skulptur
Geogr. Bezüge:
Griechenland (Altertum)
Fundort: Aventin Rom
Material / Technik: Weißer, fein- bis mittelkristalliner Marmor
Maße: insgesamt 47 cm (Höhe)
Kopf 32 cm (Höhe)
an Schläfen 15,5 cm (Breite)
äußere Augenwinkel 12 cm (Distanz)
Provenienz:erworben 1957 aus Slg. Hirsch (Auktion in Luzern)


Katalogtext:
Der bärtige Kopf mit Büstenansatz ist zum Einsetzen in einen bekleideten Körper gearbeitet. Die Halsmuskulatur und Büste zeigen an, dass er zur rechten Seite gedreht war. Der linke Schulteransatz ist schmaler als der rechte und am Rand besonders abgearbeitet, wie es für das Einpassen einer Büste in einen Statuenkörper mit über die linke Schulter geschlagenem Himationzipfel bezeichnend ist. Für den Mann in mittlerem Alter müssen die wulstig hervortretende Stirnpartie unterhalb der langen Horizontalfurche, die Falten von den inneren Augenwinkeln und von dem Ansatz der Nasenflügel schräg zu den Wangen herab, der ausgeprägte Kehlkopf und die unverwechselbare Frisur charakteristisch gewesen sein. Die markante Stirnfrisur besteht aus einer Haartolle auf der linken Seite, die vorstehend sich kräftig einrollt und über die Stirnmitte bis zu einer gabelförmigen Trennung reicht, und aus einem flacher gereihten Lockenbüschel auf der rechten Stirn. Von den hohen gelichteten Schläfen sind die sichel- und S-förmigen Locken nach hinten gelegt und bilden zusammen mit den horizontalen Nackenlocken am Hinterkopf eine Art Mittelscheitel, der durch die Kopfwendung aus der Nackenmitte nach links verschoben ist. Ein zur rechten Kopfseite tendierender Wirbel mit langen Locken bestimmt das Kalottenhaar. Ein kurz gelockter Bart bedeckt Wangen und Kinn bis zum Hals. Der Schnurrbart spart die Oberlippe aus; die seitlichen Enden fügen sich mit nach außen gedrehten Spitzen dem Kinnbart an. Der Mund mit den schmalen Lippen ist wie zum Sprechen leicht geöffnet, die obere Zahnreihe sichtbar. Die ebenmäßigen, keine starke Bewegung oder besondere Anspannung verratenden Gesichtszüge mit ruhigem verhaltenem Blick, der kurzlockige Bart und die sorgfältige wie eigenwillige Haartracht lassen in dem Dargestellten das Porträt eines Politikers oder eines Philosophen vermuten.

Für die Datierung des originalen Bildnisses hat sich die Forschung seit langem – besonders durch die stilistische Verwandtschaft zum Porträt des Komödiendichters Menander (Schefold 1943/1997, Fittschen 1991), ferner zu den Bildnissen des Theophrast, der Epikureer Metrodoros und Hermarchos und zu denen auf attischen Grabstatuen (Schröder 1993, von den Hoff 1994) – auf die Zeit um 300 v. Chr. verständigt.

Die bisher übliche Benennung ›Kolotes‹ von Lampsakos, Schüler des Epikur von Samos (342–270 v. Chr., seit 306 in Athen) und Leiter der epikureischen Schule in frühhellenistischer Zeit, beruht wesentlich auf der Hypothese, in einer Madrider Doppelherme sei unser Bildnistypus (B, Stirnfrisur seitenverkehrt) mit einem Epikurporträt (A) kombiniert (Schefold 1943,1997). Da (A) jedoch das Bildnis eines unbekannten Griechen wiedergibt, kann die Doppelherme nicht als Kombination zweier Epikureer gedeutet werden und die Identifizierung von (B) mit Kolotes nicht bestätigen (Schröder 1993, Gauer Ms. 1999). Aus der Antike sind keine Nachrichten über Lebensdaten, Schriften, Aussehen oder Bildnisse des Kolotes überliefert. Eine den epikureischen Porträts wie unserem Bildnis attestierte Ausgeglichenheit des Temperamentes und eine Gelassenheit der Haltung findet man ebenso gut bei zeitgenössischen Porträts von Nicht-Epikureern wie Aischines oder Sophokles Typus Lateran wieder. Daraus ist nicht zwingend auf eine epikureische Physiognomie zu schließen (Gauer Ms. 1999).

Die motivische Nähe zu attischen Porträts der Politiker seit der Hochklassik, die eigenwillige Frisur und eine gewisse urbane Eleganz der Physiognomie haben zu dem ansprechenden Vorschlag geführt, in diesem Porträt den Athener Staatsmann und Redner Lykourgos (um 390–324 v. Chr.) zu vermuten (Schröder 1993; von den Hoff 1994; Gauer Ms. 1999: »ähnelt dem Porträt des Isokrates«). Er stammte aus dem Geschlecht der Eteobutaden, die das erbliche Amt des Erechtheuspriesters ausübten, und war Schüler des Platon und des Redners Isokrates. Neben kultischen Ämtern hatte er seit 338/337 auch das Amt des höchsten Finanzverwalters Athens inne. Patriotisch und antimakedonisch wie Demosthenes vertrat er politisch und rhetorisch die konservativen Interessen der Polis Athen. Er soll ein ruhiger, besonnener Redner gewesen sein. Seine Hauptinteressen galten der militärischen Stärkung, Verschönerung und kultischen wie kulturellen Förderung der Stadt. Ihm zu Ehren wurden Porträtstauen errichtet: 1. auf Ratsbeschluss 307/306 im Kerameikos, 2. auf Ratsbeschluss 280/279 auf der Agora gleichzeitig mit der Statue des Demosthenes (384–322 v. Chr.) von Polyeuktos, 3. Hölzernes Bildnis im Erechtheion von den Praxitelessöhnen Kephisodotos und Timarchos, die auch die Sitzstatue des stilistisch nahestehenden Menanderporträts bald nach dessen Tod 293/292 v. Chr. schufen.

Als Vorbild für unseren Bildnistypus können chronologisch am ehesten die Porträtstatue im Kerameikos oder das nicht datierte, hölzerne Bildnis im Erechtheion (eine private Weihung der Eteobutaden?) wegen der stilistischen Nähe zu dem Menanderporträt von denselben Künstlern in Erwägung gezogen werden; eine plausible Entscheidung ist derzeit nicht zu fällen. Der Kopf und der vermutlich damit zu verbindende Figurentypus eines stehenden, himationbekleideten, zur rechten Seite blickenden Politikers im Redegestus – Gauer (Ms. 1999) schlägt den Körpertypus des ›Herodes Atticus‹ vor – könnten sich zu einer Porträtstatue gefügt haben, die den bürgerlichen und staatsmännischen Tugenden attischer Polisbürger zum Ausgang der Spätklassik in innen- wie außenpolitisch krisenhafter Zeit noch einmal individuellen und urbanen Ausdruck verlieh. Es ist daher denkbar, dass der Athener Lykourgos wegen seiner Fähigkeiten und patriotischen Rolle als zoon politikon auch noch in der römischen Kaiserzeit geschätzt und nach Ausweis schriftlicher Überlieferung kopiert wurde (Schröder 1993, Gauer Ms. 1999). Mangels ikonographischer Beweise kann die Identifizierung der bisher 11 römischen Repliken unseres Porträttypus mit Lykourgos weiterhin lediglich eine plausible Hypothese bleiben.

(Gercke 2007)



Literatur:
  • Gercke, Peter; Zimmermann-Elseify, Nina: Antike Skulpturen und Neuzeitliche Nachbildungen in Kassel. Bestandskatalog. Mainz 2007, S. 209-211, Kat.Nr. 65.


Letzte Aktualisierung: 15.04.2024



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