Paris / Alexandros



Paris / Alexandros


Inventar Nr.: Sk 8
Bezeichnung: Paris / Alexandros
Künstler / Hersteller: unbekannt
Datierung: antoninisch; spätklassisch - hellenistisch, griechisches Vorbild; späthadrianisch - antoninisch, nach Zanker
Datierung:antoninisch (GND: 4076778-4 / Datiert nach Römischem Reich)
Griechisches Vorbild:spätklassisch - hellenistisch (GND: 4030960-5 / 4024313-8)
weitere Datierung:späthadrianisch - antoninisch (nach Zanker)
Objektgruppe: Skulptur
Geogr. Bezüge:
Römisches Reich
Fundort: Via Appia-Latina, Rom
Material / Technik: Weißer, mittelkristalliner Marmor
Maße: Figur 175,5 cm (Höhe)
Brustwarzen 24 cm (Distanz)
rechte Brustwarze bis Penisansatz 41,5 cm (Distanz)
linke Brustwarze bis Penisansatz 38 cm (Distanz)
Provenienz:Erworben 1777 durch Landgraf Friedrich II. in Rom bei Gavin Hamilton


Katalogtext:
Der Jüngling steht in breiter Frontalität mit gekreuzten Beinen und lehnt sich mit der rechten Schulter an einen Baumstamm. Die Fußspitze des Spielbeins hat er im spitzen Winkel außen neben den linken Standbeinfuß gestellt. Am Stamm hängt der rechte Arm herab. Die Hand hielt ein Pedum unten am dünnen Ende fassend aufrecht; das nach außen gekrümmte dicke Ende der Jagdwaffe oberhalb der Ellenbeuge fehlt. Der angewinkelt zur Seite geführte linke Arm ist mit den Knöcheln des Handrückens außen an der Hüfte abgestützt, Handteller und Finger krümmen sich leicht. Um den Büstenausschnitt liegt bogenförmig eine zusammengeschobene Chlamys, von einer großen scheibenförmigen Fibel auf der rechten Schulter gehalten. Der schalartig drapierte Mantel reicht bis zum Brustbein zwischen den frei liegenden Brustwarzen, bedeckt den Rücken vom Nacken bis an die Glutäen und endet vorn am Baumstamm in halber Höhe herabhängend, von Schulterblatt und Arm des sich Anlehnenden an die Stütze gepresst.

Der Kopf ist leicht vor- und entschiedener zur linken Seite geneigt. Er trägt eine phrygische Mütze, die sich vor dem Scheitelzipfel etwas wellig staut. Die hochgeklappten Ohren-Wangen-Laschen sind hinter dem Zipfel zusammengebunden. Die Nackenlasche verschmälert sich rasch bis zum Lockenrand des Einsatzkopfes. Der Mützenzipfel im Nacken war separat gearbeitet und in den kragenartigen Nackenwulst der Chlamys eingepasst. Unter dem Mützenrand drängen allseits lange volle Locken hervor. Sie rahmen kranzartig und breit das schmale Gesicht mit niedriger Stirn. Die breiten scharf gezeichneten Lider schmal geöffneter Augen, der spaltbreit offene schmale Mund mit weichen Lippen und das flache zurückgenommene Kinn verleihen dem Antlitz in Verbindung mit der Kopfhaltung einen verträumten sentimentalen Ausdruck. Vom Mittelscheitel aus bedecken ziemlich symmetrisch angeordnete und ausladende Lockensträhnen die Schläfen und die seitlichen Wangen bis zum Halsansatz. Das linke Ohr ist völlig, das rechte Ohr bis auf den Muschelrand verdeckt. Den Nacken verhüllen vollständig dicht gereihte Locken bis zur Stückungsfuge; an den Halsflanken fallen sie bis auf den schmalen Schultersteg der Einsatzbüste. Die sich wellenden und auch spiralig endenden Locken sind um das Gesicht herum im Hochrelief ausgearbeitet, an den Seiten und im Nacken ist die Frisur blockhaft und in flachem Relief ausgeführt. Dieser graduelle Unterschied der plastischen Ausarbeitung ist auch an dem Baumstamm und der Chlamys festzustellen. Auf dem Rücken gliedern flache breite Rinnen und eingeebnete Faltenbahnen den Mantel, dessen äußerer Rand von dem linken Oberarm abwärts hinüber zur Stütze zieht und dabei das Gesäß wie unter einem sanft kurvigen Vorhang entblößt. Auf der Vorderseite treten bei Bogen-, Zug- und Staufalten abwechselnd scharfkantige Stege mit flächiger modellierten Bahnen und verschattende Rillen auf und beleben die Manteldraperie.

Diese Statue wird übereinstimmend seit M. Bieber (1915) in mittelantoninische Zeit datiert.

Die Körperformen sind weich, ohne deutliche Muskulatur oder kräftigen Knochenbau. Die schlanken Gliedmaßen und das schmale junge Gesicht betonen die Jugendlichkeit, die auch durch das Fehlen der Schambehaarung angezeigt wird (vgl. Apollon Lykeios Sk 5). Der Jüngling ist im Alter des Übergangs vom Pais zum jungen Epheben dargestellt. Er hat noch nicht die Lebensstufe erreicht, um die wehrhafte zweijährige Ephebenausbildung anzutreten, die nach Opferung der kindlichen Lockenpracht in der Regel mit spätestens 18 Jahren beginnt. Seinen untrainierten Körperformen nach ist auch ausgeschlossen, dass er die einem Epheben vor der Wehrertüchtigung geziemende erste sportliche Ausbildung in einem Gymnasion absolvierte. In der Körpergröße hat der Jüngling das Erwachsenenformat erreicht. Zu seinem angelehnten, lässigen Standmotiv und der untätigen Haltung passt der entspannt zur Seite geneigte Kopf mit verträumtem Ausdruck.

Die weichen jugendlichen Körperformen, die Standpose, die schalartig und ähnlich einem herrscherlichen Paludamentum mit großer Scheibenfibel drapierte Chlamys sowie die voluminöse, frisierte Lockenpracht bilden einen motivischen Kontrast zu dem Pedum und der phrygischen Mütze, die einen im rauen Bergland und unter kargen Bedingungen arbeitenden Hirten und Jäger kennzeichnen. Dieser gesuchte Gegensatz scheint den Schlüssel zum Verständnis der Figur zu bieten.

Der bildschöne, sich anlehnende untätige Jüngling ist edler Abkunft und östlicher Herkunft. In diesem posierenden Figurenmotiv mit phrygischer Mütze und Pedum werden Attis (Vermaseren 1986), Adonis (Servais-Soyez 1981), Ganymed (Sichtermann 1988) und Paris (Hampe 1981) dargestellt. Die eindeutige Benennung dieser Götterlieblinge gestatten erst weitere kennzeichnende Attribute. Unsere Statue wäre zweifelsfrei als Paris zu benennen, wenn in der leicht gekrümmten linken Hand der goldene Apfel für seine Schiedsrichterfunktion zu ergänzen wäre (vgl. den Handgestus des Heraklestorso Sk 133 mit oder ohne Hesperidenäpfel). Eine andere Option zur thematischen Klärung bietet die Kopienrezension dieses Figurentypus (Zanker 1974). Diese Untersuchung ist auch hinsichtlich der Abhängigkeit von einem griechischen Vorbild (Bronzestatue des Euphranor?) oder der Eigenständigkeit der römischen Plastik ergiebig. »Der Typus eignete sich offenbar gut für verschiedene Zwecke und wurde diesen entsprechend variiert« (bereits Bieber 1915, 23). Die stilistische Diskrepanz zwischen dem in hellenistischer Tradition stehenden Körpertypus und den variierenden, teils hochklassischer teils spätklassischer Tradition verhafteten Kopftypen (Bieber 1915) hat im Kontext mit weiteren römisch-klassizistischen Statuen zur Einschätzung als einer eklektizistischen Neuschöpfung des 2. Jh. n. Chr. geführt (Jantzen 1964, Zanker 1974). Das statuarische Motiv (gekreuzter Stand, rechtes Standbein, sich anlehnend, in idealer Nacktheit) in Verbindung mit Pedum und Mantel ist seit spätklassischer Zeit auch für Jäger in sepulkralem Kontext, z. B. Ilissos-Stele Athen, und mit langlockiger Haartracht für Attisdarstellungen bezeugt. Das statuarische Motiv begegnet wieder in der bukolischen Welt. Dort treten der frühhellenistische Satyr mit der Querflöte und der späthellenistische Satyr mit dem Schweinsfell (s. Sk 89) mit gekreuzten Beinen sich anlehnend, im Knabenalter und mehr oder minder anzüglich bekleidet auf. Sie werden sowohl in maßstäblichen Repliken wie auch in zahlreichen motivischen Varianten als Ganymed, Attis, Paris und Genien von der römischen Kunst rezipiert (Zimmermann 1994). Dieser ›Paris‹ teilt mit den Satyrknaben nicht nur motivisch sondern auch spiegelbildlich die Figurenhaltung und spezifische Bein-Fuß-Stellung, insbesondere den parallel gerichteten Spielbeinfuß mit erhobener Ferse und nur Zehen und Fußballen aufsetzend. Auch in der Betonung des Knabenalters durch weiche Körperformen und in der prononciert entblößten Präsentation des Genitals und des Gesäßes stehen sie sich motivgeschichtlich nahe. Im Sinne des römischen Eklektizismus sind diese motivischen Komponenten bei dem großformatigen vermutlichen Götterliebling klassizistisch zurückgenommen und reduziert auf subtile Anspielungen, wie sie auch an römischen Varianten und Umbildungen der vorgenannten hellenistischen Satyrtypen von Zimmermann (1994) überzeugend festgestellt wurden. ›Paris‹ kann als charakteristischer Vertreter der römischen Konzeptfigur gelten, die klassische und hellenistische Bildelemente des sich anlehnenden und entblößenden Knaben vereint und durch geringe Veränderungen z. B. in der Figurengröße, in der prächtigen langlockigen Frisur und in der klassizistischen Physiognomie zu einem eigenen Figurentyp im Wettstreit mit den opera nobilia entwickelt (Landwehr 1998).

(Gercke 2007)



Literatur:
  • Bieber, Margarete: Die antiken Skulpturen und Bronzen des Königlichen Museum Fridericianum in Cassel. Marburg 1915, Kat.Nr. 26.
  • Gercke, Peter; Zimmermann-Elseify, Nina: Antike Skulpturen und Neuzeitliche Nachbildungen in Kassel. Bestandskatalog. Mainz 2007, S. 176-179, Kat.Nr. 51.


Letzte Aktualisierung: 17.10.2023



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