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Mann in Exomis (Herkules im Chiton)



Mann in Exomis (Herkules im Chiton)


Inventar Nr.: Sk 1
Bezeichnung: Mann in Exomis (Herkules im Chiton)
Künstler / Hersteller: unbekannt
Datierung:
Datierung:130 - 140
Griechisches Vorbild:430 - 420 v. Chr.
Objektgruppe: Skulptur
Geogr. Bezüge: Griechenland (Altertum)
Material / Technik: Weißer, mittelkristalliner Marmor
Maße: Torso 120 cm (Höhe)
Gürtel 110 cm (Umfang)
Schultern 59 cm (Breite)
Provenienz:Erworben 1777 durch Landgraf Friedrich II. in Rom bei Gavin Hamilton


Katalogtext:
Von dem überlebensgroßen Standbild eines breitschultrigen Mannes mit linkem Standbein und etwas zur Seite gesetztem rechten Spielbein ist der Körper mit Oberarmen und Oberschenkeln erhalten. Er ist mit dem kurzen Chiton (Exomis) und Mantel bekleidet. Die Kopfhaltung und Halsbewegung sind wegen der ausgeschnittenen Büstenmitte nicht mehr abzulesen. Beide Oberarme sind gesenkt. Der linke Unterarm des leicht zurückgenommenen Oberarms war vorgestreckt, der rechte Oberarm etwas weiter vom Körper abgestreckt. Der kräftige aber nicht betont athletische Rumpf ist mit einer dünnen feinfaltigen Exomis bekleidet, die fast bis zu den Knien reicht. Das Gewand mit einem kurzen Ärmel auf der linken Schulterkugel ist auf der rechten Schulter gelöst; die Gewandzipfel sind an der rechten Taille durch den Gürtel gezogen. Die rechte Schulter mit Brust und Schulterblatt ist entblößt. In einem Bogen führt der gebauschte Gewandsaum der Exomis diagonal von der linken Schulter um den Oberkörper zur rechten Taille. Die eng anliegende Exomis lässt die Körperformen und den infibulierten (?) Penis durchscheinen. Über dem straff gespannten Gürtel staut sich der Chitonstoff ein wenig, über und unter der Schnalle bilden sich einige flache Bogenfalten. Das Ende des vorn hochgezogenen breiten Lederriemens ist in der Mitte durch eine vertikale Schlaufe gesteckt. Links und rechts davon haben zwei nebeneinander gebohrte Löcher ehemals der Befestigung von metallenem Schnallenzierat gedient. Das Gewand schmiegt sich mit vertikalen und fein modellierten Faltenbändern wie vom Wind bewegt an Körper und Oberschenkel des linken Standbeines und des ein wenig zur Seite und nach vorn gesetzten Spielbeines an. Die Position des linken Knies könnte auch auf eine etwas angewinkelte Stellung des Unterschenkels und somit auf eine kleine Schrittbewegung des Standbeins hindeuten. Die Gewandsäume über den Knien und am linken Oberarm außen sind in schöne, abwechslungsreiche Falten gelegt. Von der linken Schulter fällt der gerundete Bausch eines Mantels vorn bis zur Brust herab. Ein Ende des dickeren Mantelstoffes reicht hinten freihängend bis zur Hüfte. Das andere längere Mantelende bedeckt hinten den linken Oberarm, war vom Ellenbogen um den Unterarm von außen nach innen geschlungen und reichte seitlich neben dem Standbein bis zum Exomissaum herab. Im Gegensatz zur bewegten Haltung, chiastisch ponderierten Komposition und differenzierten Modellierung der Vorder- und Nebenseiten ist die Statuenrückseite vereinfacht, flächig und stereotyp gearbeitet.

Da der Kopf mit Hals und Büstenansatz, die Unterarme und Hände mit Attributen sowie die Unterschenkel mit Füßen und Plinthe fehlen, ist das Statuenmotiv im wesentlichen nur aus der Haltung und Tracht dieses Torsos zu erschließen, solange Repliken oder bildliche Wiederholungen nicht nachgewiesen sind. Die gegürtete, einärmelige Exomis mit entblößter rechter Schulter gilt als zweckmäßige Kleidung für Arbeitende und Kämpfende und wird von Menschen und Göttern getragen. Den groben Arbeitskittel zeigen Bilder mit Handwerkern und Sklaven. Das dünne bis durchscheinende Gewand bevorzugen die ritterliche Jugend, Kämpfer (Hipparchen, Apobaten) und Feldherrn. Dem Vorschlag Furtwänglers (1893), diesen Torso in Kombination mit der Hephaistosbüste Museo Chiaramonti 1211 auf den Hephaistos der Kultbildgruppe von Alkamenes im Athener Hephaisteion zurückzuführen, ist die Forschung nicht gefolgt (Bieber 1915, Papaspyridi-Karusu 1954/55, Schuchhardt 1977, Brommer 1978). Für diese feine Art von Exomis in Verbindung mit der zusammengelegten und über Schulter und Arm geworfenen Chlamys fehlen ikonographische Belege zu Hephaistos, der überdies in der Athener Kultbildgruppe Stand- und Spielbein gegenüber dem Kasseler Torso getauscht und die grobe Exomis mit Überschlag getragen hatte, wenn die römische Tonbildlampe Hephaistos seitenrichtig wiedergibt. Eine von M. Bieber (1915) explizit begründete Hypothese weist den Kasseler Torso nach Tracht und Ikonographie der Gattung heroisierter Porträtfiguren und idealisierter Strategenbildnisse zu und erwägt, den Strategenkopf Typus Pastoret Rom Museo Novo 1862 aus stilistischen Gründen mit diesem Torso zu verbinden. Der Kasseler Torso könnte wegen seines neuzeitlichen tiefen Büsteneinschnittes ursprünglich einen Einsatzkopf getragen haben. Eine von P. Kranz 1970 mit einem Gipsabguß dieses Einsatzkopfes versuchte Zusammenfügung führte zu keinem befriedigenden Resultat. Die ansprechende Deutung des Torsos als Strategenfigur wäre erst dann typologisch einwandfrei gesichert, wenn für diese Bildnisgattung die bis heute strittige Ikonographie der idealisierten Statuenkörper geklärt sein wird: unbekleidet oder bekleidet mit Chiton und Panzer (Krumeich 2002, Weber 2002).

Über die Datierung des Torsos in die attische Kunst um 430/420 v. Chr. herrscht in der Forschung weitgehend Übereinstimmung. Die vorzügliche bildhauerische Arbeit der Vorderseite und die Befestigungsart für Gürtelschmuck ließ M. Bieber (1915) an ein griechisches Original denken. Die Diskrepanz zwischen Vorder- und Rückseite sowie die Modelliertechnik sprechen jedoch eher für eine vorzügliche, späthadrianische bis frühantoninische Kopie, deren Vorderseite die toreutische Qualität eines Bronzevorbildes wiedergibt.

Die besondere Tracht, das statuarische Motiv und die singuläre wie qualitätvolle Kopie haben dazu beigetragen, seit langem nach der künstlerischen Handschrift und einer Identifizierung durch schriftlich überlieferte Werke zu suchen. Da Alkamenes als Verfertiger des Hephaistos aus ikonographischen Überlegungen kaum für den Torso in Betracht zu ziehen ist und seine Werke mehr durch wuchtige Erscheinung, strengen Aufbau und ernste, einfache Formen ausgezeichnet erscheinen, hat M. Bieber (1913) Kresilas in Erwägung gezogen, und zwar anhand der Rückführung der römischen Kleinbronze des verwundeten, mit Exomis und Mantel bekleideten Kriegers aus Bavai in St.-Germain-en-Laye auf den Vulneratus deficiens von Kresilas (Plin. nat. 34, 75) und dessen Gleichsetzung mit der Bronzestatue des attischen Feldherrn Diitrephes in den Athener Propyläen (Paus. 1, 23, 3–4.). Diese Hypothese stützt M. Bieber zusätzlich mit einem Hinweis auf das ebenfalls Kresilas zugeschriebene, inschriftlich gesicherte Strategenporträt des Perikles, dessen Körpertypus freilich noch strittig ist. Das Œuvre des Kresilas ist immer noch zu wenig gesichert, um die künstlerische Handschrift des Zeitgenossen von Pheidias näher zu bestimmen. Daher bleibt die Zuschreibung des Kasseler Torsos an Kresilas eine Arbeitshypothese, die sich auf die vornehme, zugleich lebensnahe Darstellung der feinteiligen Gewandung und des kräftigen, gespannt bewegten Körpers stützt und auf die ungewöhnliche Tracht, die mehr den bürgerlich auftretenden als den martialisch gepanzerten Feldherrn zu betonen scheint. Einem betont zivil idealisierten Strategentypus mit korinthischem Helm entspräche die vielleicht auch diesem Künstler zuzutrauende andere Stand- und Spielbeinstellung analog der erschlossenen Ponderation der Periklesstatue, die sich auch darin von den anders ponderierten, gepanzerten oder heroisch nackten Statuenkörpern sonstiger vermutlicher Strategenporträts abhebt.

(Gercke 2007)



Literatur:
  • Bieber, Margarete: Die antiken Skulpturen und Bronzen des Königlichen Museum Fridericianum in Cassel. Marburg 1915, Kat.Nr. 15.
  • Savoy, Bénédicte: Patrimoine annexé: Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800. Paris 2003, S. 21, Kat.Nr. 25a.
  • Gercke, Peter; Zimmermann-Elseify, Nina: Antike Skulpturen und Neuzeitliche Nachbildungen in Kassel. Bestandskatalog. Mainz 2007, S. 206-208, Kat.Nr. 64.
  • Lange, Justus [bearb.]; Rotter, Malena [bearb.]: Alte Meister que(e)r gelesen. Begleitband zur Ausstellung, 15.12.2023-24.03.2024, Kassel, Schloss Wilhelmshöhe. Petersberg 2023, S. 90-91.


Letzte Aktualisierung: 15.04.2024



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