Windmühlenbecher



Windmühlenbecher


Inventar Nr.: KP B II.22
Bezeichnung: Windmühlenbecher
Künstler / Hersteller: Georg Christoph I Erhart (ca. 1556/1557 - 1628)
Datierung: um 1595 - 1600
Objektgruppe:
Geogr. Bezug: Augsburg
Material / Technik: Silber, gegossen, getrieben, punziert, ziseliert, gelötet, vergoldet
Maße: 19,5 cm (Höhe)
Lippenrand 10,9 cm (Durchmesser)
232,4 g (Gewicht)
13,7 cm (Tiefe)
Beschriftungen: BZ: Pyr für Augsburg (Seling 1980, Nr. 21)
MZ: Hausmarke im Kreis für Georg Christoph I Erhart (Seling 1994, Nr. 1089* b; Archiv Augsburger Goldschmiedekunst)
BZ und MZ befinden sich am Lippenrand, der Tremolierstrich am Übergang der Kuppa zum Schaft.


Katalogtext:
„Es ist leider […] gantz Deudsch land mit dem Sauffen laster geplagt. Wir predigen, schreien und predigen da wider. Es hilfft leider wenig.“ Mit diesen Worten beklagte Martin Luther 1541 den Alkoholismus seiner Zeitgenossen, der als „Sauffteufel“ alle Gesellschaftsschichten bedrohte. Im Kern lag das Übel in den Gemeinschaft stiftenden Trinkritualen des 16. und 17. Jahrhunderts. Bei geselligen Runden, sei es von Zünften, Studenten, Bürgern oder Fürsten, bestand Trinkzwang. Die Aufforderung zum gemeinsamen Trank, das Zutrinken, erwiderte der Aufgeforderte mit dem „Bescheid“, indem er sein Glas in einem Zug leerte. Sollte ihm das nicht gelingen oder er sich dem Ritual verweigern, galt dies als Beleidigung des Zutrinkers. Im besten Fall wurden Trinkstrafen verhängt, im schlimmsten folgte ein handfester Streit. Der Trinkzwang wurde durch immer neue Verordnungen verboten – mit mäßigem Erfolg. Auch Landgraf Moritz der Gelehrte war bemüht, dem Alkoholkonsum Schranken zu setzen. 1601 stiftete er einen Mäßigkeitsorden, dessen Mitglieder sich verpflichteten, zu den zwei täglichen Mahlzeiten nicht mehr als je sieben Ordensbecher Wein zu trinken. Weiterhin wurde bestraft, wer andere zum Trinken nötigte. Über den Erfolg dieser Maßnahme schweigen die Quellen ebenso wie über das Fassungsvermögen eines Ordensbechers. Die Scherzgefäße, die sich in der Kasseler Sammlung erhalten haben, zeigen aber, dass man auch in Nordhessen Freude an Trinkspielen und feuchtfröhlichen Bräuchen hatte.
Zwei der Scherzgefäße, ein Windmühlenbecher und der Sturzbecher mit Schaufelrad (Inv.-Nr. KP B II.21), lassen sich mit konkreten frühneuzeitlichen Trinkritualen verknüpfen. Beiden ist gemeinsam, dass sie keinen Standfuß besitzen und daher nur in geleertem Zustand kopfüber abgesetzt werden können. In dieser Position erscheint der Windmühlenbecher als Hügel, auf dem eine kleine Bockwindmühle mit Mühlenschwanz und Zugangsleiter steht. Das scheinbar aus Brettern gezimmerte Mühlenhäuschen trägt auf der Vorderseite eine uhrenartige Anzeige, an der Rückseite die Mühlenflügel. Über die Verwendung dieses Gefäßtyps gibt eine der wenigen zeitgenössischen Quellen über Trinkbräuche Auskunft. 1562 beschrieb der Pastor Johannes Mathesius (1504–1565) ihren Gebrauch wie folgt: „[…] ein Palestinischer Bischoff in diesen landen ein silbern trinckgeschirr soll haben, das seine pfeiff und rädlein hat, welches man eine Windmühl nennet, und da einer nicht den wein heraus trinckt, weil das rädlein umblaufft, muß ers noch einmahl trincken“ (Mathesius 1562 [1679], S. 775). Durch kräftiges Blasen in den als Blasrohr ausgearbeiteten Mühlenschwanz wurde das Windrad in Drehung versetzt. Der gefüllte Becher musste „auf ex“ getrunken werden, bevor das Rädchen zum Stillstand kam. Bei rund 420 ml Fassungsvermögen und einer Drehdauer von kaum fünf Sekunden war dies eine große Herausforderung, die einen kräftigen Atem zum Antrieb des Windrads und anschließend einen guten Zug voraussetzte. Wer an der Aufgabe scheiterte, bekam nachgeschenkt, und vermutlich zählte die kleine Uhr auf der Vorderseite die absolvierten Versuche. Ähnlich funktionierte der Sturzbecher mit Schaufelrad, der möglicherweise aus dem Besitz von Sabine von Württemberg (1549–1581), der Gemahlin Landgraf Wilhelms IV. von Hessen-Kassel stammte. Den Quellen nach erhielt Landgräfin Sabine 1575 ein derartiges Trinkgefäß als Neujahrsgeschenk. Ob sie es jemals gemäß der Trinkregel verwendet hat, bleibt offen.
(Antje Scherner in: Kat. Kassel 2016)



Literatur:
  • Lenz, A.: Führer durch den Unterstock der neuen Bildergalerie zu Kassel von A. Lenz, Königlichem Museums=Inspector, S. 7, Kat.Nr. 22.
  • Lessing, Julius: Wunderliches Trinckgerät. In: Westermann Ilustrierte Deutsche Monatshefte. Ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart. (1887), S. 383-400, 433-450, S. 445.
  • Drach, C. Ahlhard: Aeltere Silberarbeiten in den Königlichen Sammlungen zu Cassel. Mit urkundlichen Nachrichten und einem Anhang: Der Hessen-Casselsche Silberschatz zu Anfang des 17. Jahrhunderts und seine späteren Schicksale. Marburg 1888, S. 19,.
  • Rosenberg, Marc: Der Goldschmiede Merkzeichen. 1922-1928, S. 395 c.
  • Grote, Ludwig: Aufgang der Neuzeit. Deutsche Kunst und Kultur von Dürers Tod bis zum Dreißigjährigen Kriege 1530-1650. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Ausstellung 15.7.1952 - 15.10.1952. Nürnberg 1952, S. 147, Kat.Nr. P 46.
  • Klar, Martin: Ein Trinkspiel Augusts des Starken. Berlin 1961, S. 58, Kat.Nr. 19.
  • Kalnein, Wend von: Das Weingefäß im Wandel der Jahrtausende. Stuttgart 1966, Kat.Nr. 125.
  • Langemeyer, Gerhard [Hrsg.]; Peter, Hans Albers [Hrsg.]: Stilleben in Europa. Münster [u.a] 1979, Kat.Nr. 59.
  • Bushart, Bruno [Hrsg.]: Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock. Augsburg 1980, S. Bd.2, Kat.Nr. 692.
  • Seling, Helmut: Die Kunst der Augsburger Goldschmiede 1529-1868. In: Meister, Marken, Werke. 3 Bde. (1980), S, S. Bd.1 85, 251, Kat.Nr. Bd.2.166; Bd.3. 1089b.
  • Baumstark, R. [Hrsg.] / Seelig, Lorenz [Hrsg.]: Silber und Gold. Augsburger Goldschmiedekunst für die Höfe Europas. München 1994, S. 119, Kat.Nr. 8, Bd.2 ,19.
  • Ottomeyer, Hans: Provenance an use of renaissance drinkting vessels in the Kassel Collections. In: Leonor d'Orey [Hrsg.] , European Royal Tables - International Symposium Acts, Museu Nacional de Arte Antga, Lissabon 12-14.12.1996. Lissabon (1999), S. 86-101, S. 95, Kat.Nr. 3.
  • Schmidberger, Ekkehard; Richter, Thomas; Eissenhauer, Michael [Hrsg.]: SchatzKunst 800-1800. Kunsthandwerk und Plastik der Staatlichen Museen Kassel im Hessischen Landesmuseum. Wolfratshausen 2001, S. 186, Kat.Nr. 76.
  • Schütte, Rudolf-Alexander [Bearb.]: Orfvevrerie d'apparat Allemagne XVe-XVIIe siècle. Collections du Hessisches Landesmuseum Kassel. Bordeaux 2001, Kat.Nr. 17.
  • Schütte, Rudolf-Alexander: Die Silberkammer der Landgrafen von Hessen-Kassel. Bestandskatalog der Goldschmiedearbeiten des 16. bis 18. Jahrhunderts in den Staatlichen Museen Kassel. Kassel / Wolfratshausen 2003, S. 175-176, Kat.Nr. 36.
  • Scherner, Antje: "Gestern bin ich voll gewest". Alkohol und Trinkspiele in der Frühen Neuzeit. In: Die Faszination des Sammelns. Meisterwerke der Goldschmiedekunst aus der Sammlung Rudolf-August Oetker, hrsg. von Monika Bachtler u.a. (2011), S. 91-99, S. 95.
  • Scherner, Antje: Scherzgefässe. Zur Wechselwirkung von Gestaltung, Handhabung und Trinkregeln in der Frühen Neuzeit. In: Pöpper, Thomas [Hrsg.]: Dinge im Kontext. (2015), S. 145-162, S. 150-154.
  • Scherner, Antje [Bearb.]; Cossalter-Dallmann Stefanie [Bearb.]: Aus der Schatzkammer der Geschichte. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Petersberg 2016, S. 74, Kat.Nr. 28.


Letzte Aktualisierung: 15.08.2022



© Hessen Kassel Heritage 2024
Datenschutzhinweis | Impressum