Der Apostel Thomas ("Der Architekt")



Der Apostel Thomas ("Der Architekt")


Inventar Nr.: GK 246
Bezeichnung: Der Apostel Thomas ("Der Architekt")
Künstler / Hersteller: Nicolaes Maes (1634 - 1693), Maler/in
Datierung: 1656
Objektgruppe: Gemälde
Geogr. Bezug:
Material / Technik: Öl
Maße: 120 x 90,3 cm (Bildmaß)
157 x 128 x 12 cm (Objektmaß)
Provenienz:erworben auf der Verst. der Sammlung Lambert ten Kate, Amsterdam 16.6.1732 durch Wilhelm VIII.


Katalogtext:
Ein grauhaariger, bärtiger Greis sitzt gedankenverloren an einem Tisch, auf dem sich Papier, ein Buch, ein schwarzes Tintenfass und ein gold glänzender Leuchter befinden. Seinen rechten Ellenbogen stützt er auf dem Tisch ab, während er die Hand mit der Schreibfeder erhoben hält – das Innehalten im Nachdenken wird so anschaulich. Die gesenkte linke Hand hält ein Winkelmaß, womit ein Hinweis auf die Beschäftigung des Mannes gegeben wird. Gekleidet ist es in einen braunroten Rock mit ockerfarbenen Pelzbesatz über einem weißen Hemd.
Das Winkelmaß war schon im Auktionskatalog von 1732 der Grund, im nachdenklichen Alten einen Architekten oder Mathematiker zu vermuten. Das Kasseler Inventar von 1749 nennt ihn – nach dem berühmtesten Mathematiker der Antike – den „Archimedes mit dem Winkelmaas“. Auf diese Identifizierung verzichten die Kataloge der Galerie von 1783 bis 1885, um das Gemälde 1888 dann „Bildnis eines Architekten“ zu betiteln. 1913 wird – sicher in Kenntnis von Valentiners Publikation von 1908 – hinzugesetzt, daß der Dargestellte vielleicht der Apostel Bartholomäus sei, wohingegen Hofstede de Groot 1915 erstmals den Apostel Thomas nannte. Das Winkelmaß ist Attribut der Apostel Judas Thaddäus und Jakobus Minor ist, doch gehört es meist zu Thomas, der – so erzählt es die Legenda aurea – bei einer Mission in Indien für den dortigen Herrscher einen Palast bauen sollte, die dafür bestimmten Mittel aber an die Armen verteilte und dem Auftraggeber stattdessen einen Palast im Himmel versprach.
Bekannter ist die Darstellung des Apostels Thomas in der biblischen Szene, die seinen Namen sprichwörtlich mit dem Unglauben verband: Als Christus nach der Auferstehung den Jüngern erscheint, zweifelt Thomas an der Überwindung des Todes, so daß Christus ihn auffordert, seine Wundmale mit der Hand zu berühren (Johannes 20, 24-29). Aus dem szenischen Zusammenhang herausgelöst, lediglich mit einem Attribut – wie hier dem Winkelmaß – kenntlich gemacht, gehört eine solche einfigurige Darstellung in der Regel zu einer Folge der zwölf Apostel. Solche Serien, die auch mit Abbildungen von Christus und Maria vervollständigt werden konnten, sind in den katholischen Landen keine Seltenheit; dokumentiert bzw. erhalten sind Serien von Frans Floris, Maerten de Vos, Crispijn van den Broeck und anderen. Am berühmtesten wurden die Folgen von Peter Paul Rubens und von Anthonis van Dyck, die jeweils mehrfach wiederholt worden sind. Von Rembrandt und seinen Schülern sind ebenfalls Aposteldarstellungen bekannt. Bislang war es jedoch nicht möglich, wenigstens eine komplette Folge zusammenzustellen, selbst unter der Prämisse, daß auch mehrere Maler an einer Serie gemalt haben könnten. Im gleichen Format und ebenfalls als Dreiviertelfiguren ließen sich dem Kasseler Apostel Thomas von 1656 immerhin zwei Werke zur Seite stellen, ein Apostel Bartholomäus von Rembrandt aus dem Jahr 1657 (San Diego, Timken Art Gallery) und ein Apostel Paulus aus seiner Werkstatt und derselben Zeit (Washington, National Gallery of Art). Auf der anderen Seite sind Einzeldarstellungen von Aposteln auch dort denkbar, wo sie alleine als Namenspatrone einer Person oder Institution in Funktion treten.
Für Hanns H. Josten war es 1922 weniger interessant, ob der Dargestellte als Archimedes, Architekt, Apostel oder auch Prophet des Alten Bundes gedeutet wurde: „Der Grundgedanke ist in jedem Falle ungefähr derselbe. Ein Typus hat in dem Bilde Gestalt gewonnen, der Typus edlen durchgeistigten Alters. Aufs Feinste ist dieser Gedanke ausgesprochen in der eindrucksvollen Erscheinung der Gestalt mit dem wunderbaren Greisenkopf, dessen dunkle Augen verloren ins Weite schauen, in den beseelten Händen, die mitsprechen wie jeder Zug des charaktervollen Gesichts“.
Da diese seelischen Qualitäten nur Rembrandt in einem Gemälde erfaßt haben konnte, mußte 1923 ein Artikel von Wilhelm Martin provokant erscheinen, der das Werk als eine schwache Kopie nach einem (unbekannten) verschollenen Rembrandt-Original hinstellte. Er ging in seiner Argumentation rein stilkritisch vor, indem er es mit Rembrandts ebenfalls in Kassel verwahrten künstlerischen Hauptwerk Der Segen Jakobs aus demselben Jahr 1656 verglich (GK 249). Das – so Martin – zugrunde liegende Original Rembrandts könnte in der Art etwa von dessen Gemälde Alter Mann im Lehnstuhl von 1652 gemalt gewesen sein, das sich heute als Werk eines unbekannten Nachfolger Rembrandts in der National Gallery in London befindet.
Schon vor dem Artikel Martins hatte es Zweifel an der Zuschreibung des Apostel Thomas an Rembrandt gegeben. Die teilweise gefälschte Signatur „Rembr. 1656“ war schon zwischen 1883 und 1885 durch den Berliner Restaurator Hauser bis auf die Jahreszahl abgenommen worden. Die Autoritäten wie Bode, Eisenmann und Hofstede de Groot hielten aber an der Autorschaft Rembrandts fest, während Abraham Bredius schon um 1890 Nicolaes Maes vorschlug. Ihm folgte Van Dyke 1914 und 1923, andere nannten Barent Fabritius, Willem Drost, Karel van Savoyen oder Karel van der Pluym, selbst Rembrandts Sohn Titus van Rijn und sogar Antoine Watteau wurden vorgeschlagen.
Durchgesetzt hat sich schließlich weitgehend die Zuschreibung an Nicolaes Maes, die durch einen technischen Befund Unterstützung fand: Bei der Firnisabnahme 1978 stellte Hubertus von Sonnenburg fest, daß die ehemalige falsche Rembrandt-Signatur auf eine Stelle gemalt worden war, deren ursprüngliche Bezeichnung bis auf die Grundierung weggekratzt worden war. Der verbliebene Platz kann nur von einem sehr kurzen Namen eingenommen worden sein. Für „Maes“ spricht zudem der Duktus der erhaltenen Jahreszahl, der originalen Signaturen von Nicolaes Maes aus jener Zeit entspricht.
Damit fügt sich der Apostel Thomas in die erste selbständige Schaffenszeit von Nicolaes Maes ein. Er muß gegen Ende der vierziger Jahre zu Rembrandt in die Lehre gekommen sein, sein frühest bekanntes Gemälde mit Datum entstand 1653. In diesem Jahr ist er wieder in seiner Geburtsstadt Dordrecht nachgewiesen. Drei Jahre später, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, malte er also den Apostel Thomas. Zeitgleich entstanden weitere Gemälde mit Einzelfiguren alter Frauen, die im ähnlichen Bildausschnitt an einem Tisch sitzen, in der Bibel lesen oder auch über der Lektüre eingeschlafen sind. Die Eingeschlafene alte Frau in Brüssel weist die meisten Ähnlichkeiten zum Kasseler Apostelbild auf, was die gleiche Darstellung des Pelzes und die Modellierung der Hände mit den hervortretenden Adern, aber auch die Durchlichtung der Stoffe – der Haube bzw. des Papiers – betrifft (Brüssel, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique).
Der Hinweis von Wilhelm Martin auf das Gemälde Alter Mann im Lehnshl in London erweist sich als wertvoll, was die künstlerische Quelle des Apostel Thomas betrifft. Beide Gemälde weisen nicht nur eine sehr ähliche Motivik auf (ein alter bärtiger Mann sitzt im rötlichen, mit Pelz verbrämten Mantel im Stuhl, seinen rechten Arm aufgestützt), sie zeigen auch die gleiche Farbigkeit und gleiche Beleuchtungseffekte. Das Licht trifft jeweils den Kopf des Alten von schräg oben, so daß die eine Schulter in hellen Farben erstrahlt, während die andere nur einen Streiflicht von hinten erhält. Vor die belichtete Seite wird jeweils die erhobene Hand der Alten geführt, so daß sich an diesen Stellen ein spannungsvolles Spiel von Überschneidungen ergibt. Sicher sind beide Gemälde nicht von einer Hand; gegenüber dem sicher und breit gemalten Londoner Bild wirkt das Kasseler ängstlich und verhalten. In jedem Fall ist aber anzunehmen, daß Maes dieses Gemälde wohl noch in der Werkstatt Rembrandts gemalt hat.
Noch vor dem Verkauf nach Kassel ist das Gemälde in den Niederlanden von Cornelis Troost in Pastell kopiert worden (J.W. Niemeijer, Cornelis Troost, Assen 1973, Kat. Nr. 920 T).
(G. J. M. Weber, 2006)



Inventare:
  • Catalogue des Tablaux. Kassel 1749, S. 31, Nr. 297.
Literatur:
  • Causid, Simon: Verzeichnis der Hochfürstlich-Heßischen Gemälde-Sammlung in Cassel. Kassel 1783, S. 6, Kat.Nr. 18.
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Versuch eines Verzeichnisses der kurfürstlich hessischen Gemälde-Sammlung. Kassel 1819, S. 50, Kat.Nr. 304.
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Verzeichniß der Kurfürstlichen Gemählde-Sammlung. Cassel 1830, S. 58, Kat.Nr. 350.
  • Auszug aus dem Verzeichnisse der Kurfürstlichen Gemälde-Sammlung. Kassel 1845, S. 38, Kat.Nr. 350.
  • Voll, Karl: Die Meisterwerke der königlichen Gemälde-Galerie zu Cassel. München 1904.
  • Hofstede de Groot, C.; Plietzsch, Eduard (mitwirkend); Lilienfeld, Karl (mitwirkend): Beschreibendes und kritisches Verzeichnis der Werke der hervorragendsten Holländischen Maler des XVII. Jahrhunderts. Esslingen/Paris 1907-1928, S. 104 (Bd. 6, 1915), Kat.Nr. 182.
  • Gronau, Georg: Katalog der Königlichen Gemäldegalerie zu Cassel. Berlin 1913, S. 53, Kat.Nr. 246.
  • Martin, W.: Zur Rembrandtforschung. In: Der Kunstwanderer 5 (1923), S. 407-411, S. 408-411.
  • Gronau, Georg; Luthmer, Kurt: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel. 2. Aufl. Berlin 1929, S. 63, Kat.Nr. 246.
  • Voigt, Franz: Die Gemäldegalerie Kassel. Führer durch die Kasseler Galerie. Kassel 1938, S. 23, Kat.Nr. 246.
  • Hamann, Richard: Rembrandt. Berlin 1948, S. 190.
  • Vogel, Hans: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel. Kassel 1958, S. 122-123, Kat.Nr. 246.
  • Bott, Gerhard; Gronau, Georg; Herzog, Erich; Weiler, Clemens: Meisterwerke hessischer Museen. Die Gemäldegalerien in Darmstadt, Kassel und Wiesbaden. Hanau 1967, S. 106, 140.
  • Herzog, Erich: Die Gemäldegalerie der Staatlichen Kunstsammlungen Kassel. Geschichte der Galerie von Georg Gronau und Erich Herzog. Hanau 1969, S. 18, 52.
  • Schnackenburg, Bernhard: Gemäldegalerie Alte Meister Gesamtkatalog. Staatliche Museen Kassel. 2 Bde. Mainz 1996, S. 176.
  • Weber, Gregor J. M. u. a.: Rembrandt-Bilder. Die historische Sammlung der Kasseler Gemäldegalerie. Ausstellungskatalog Staatliche Museen Kassel. München 2006, S. 96-102, Kat.Nr. 6.
  • Weber, Gregor J. M.: Rembrandt in Kassel. The Relativity of Eighteenth-Century Connoisseurship. In: Appreciation the Traces of an Artist's Hand, Kyoto Studies in Art History, Bd. 2 (2017), S. 73-82, S. 75.
  • Suchtelen, Ariane van: Nicolaes Maes. Zwolle 2019, S. 46-49, Kat.Nr. 4.


Letzte Aktualisierung: 28.11.2022



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