Bildnis eines Mannes



Bildnis eines Mannes


Inventar Nr.: GK 27
Bezeichnung: Bildnis eines Mannes
Künstler / Hersteller: Jan Gossaert (1478 - 1532), Maler/in
Dargestellt: unbekannt, Dargestellt
Datierung: um 1530
Objektgruppe: Gemälde
Geogr. Bezug:
Material / Technik: Eichenholz
Maße: 28,2 x 23,1 cm (Bildmaß)
Provenienz:erworben vor 1749 durch Wilhelm VIII.
Beschriftungen: Aufkleber: verso Tu Michi Causa Doloris du bist mir eine ursache der Schmertzen.
TV MICHI CAVSA DOLORIS


Katalogtext:
Mit ruhigem Blick wendet sich der wohlgekleidete Herr frontal dem Betrachter zu. In seiner Rechten hält er ihm mit auffälliger Geste eine rechteckige, augenscheinlich metallene Kartusche mit der Inschrift „Tu michi causa doloris“ („Du bist der Grund meines Schmerzes“) entgegen, die sich im Andachtskontext oder in der Liebesdichtung verorten lässt. Durch den Schattenwurf der Figur erhält der grüne Hintergrund einen räumlichen Charakter. Der nachdrücklich appellative Charakter, der von Blick und Gestik des Porträtierten ausgeht, wird durch zwei Aspekte gesteigert: Die Enge des Bildausschnitts rückt die Gestalt, deren Arme seitlich vom Bildrand beschnitten sind, näher an den Betrachter heran. Entscheidend verstärkt aber wird dieser Eindruck durch die Position der linken Hand, deren gekrümmte Finger auf einer imaginären Brüstung aufliegen, die mit der tatsächlichen Malkante der Bildtafel identisch ist. Die Grenze zwischen Bild- und Betrachterraum wird hierdurch aufgebrochen, der Bildraum selbst gleichsam zur Umkehrung des Gemäldes als Fenster im Sinne Albertis, das sich hier nicht nur in die Tiefe des Raums, sondern auch zum Betrachter hin öffnet.
Gossaerts Bildnis steht in der Tradition illusionistischer Effekte in der altniederländischen Porträtmalerei bei Jan van Eyck oder Dirck Bouts, deren Figuren mitunter ebenfalls Hand oder Arm auf einer tatsächlich vorhandenen oder gedachten Brüstung ablegen. Demgegenüber vermag die perspektivische Verkürzung der von vorne gezeigten Finger, wie die Kasseler Tafel und weitere Porträts Jan Gossaerts sie vorführen, in ihrer Orientierung zum Betrachter den Eindruck unmittelbarer Präsenz nochmals zu steigern. Das gleiche Motiv kommt bereits in Gossaerts Porträts des Jean Carondelet (um 1503–1508), dem Bildnis Floris van Egmonds (um 1519) sowie im Brüsseler Porträt eines Mannes (1525–1530) zum Einsatz. In dem dortigen direkten, wenngleich seitlichen Blick aus dem Bild und der belebten Haltung der Finger ist eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Kasseler Bildnis gegeben. Auch dessen Typus des Brustbildes in engem Bildausschnitt vor grünem Fond stellt ein wiederkehrendes Motiv des Œuvres dar. In der für Gossaert ungewöhnlichen Frontalität der Figur, gepaart mit dem direkten Blick des Mannes und dem subtilen Illusionismus der Handhaltung, nimmt das formal reduzierte Kasseler Bildnis unter den Porträts des Künstlers eine Sonderstellung ein. Vor allem dank des letztgenannten Motivs sieht sich der Betrachter nicht nur in gänzlich unvermittelter Weise durch den Porträtierten angesprochen, dessen Gegenwärtigkeit scheint darüber hinaus in sein eigenes Hier und Jetzt hineinzureichen. Nicht nur der Gedanke der Memoria, des Gedächtnisses, ist in dieser gesteigerten Präsenz unterstrichen, sondern auch der Aspekt der Vergänglichkeit konterkariert, die beide untrennbar mit der Aufgabe des frühneuzeitlichen Porträts verbunden sind. Schließlich erfährt auch der inhaltlich bislang nicht eindeutig geklärte Appell der Inschrift hierin einen besonderen Nachdruck. Bei dem Dargestellten handelt es sich möglicherweise um den neulateinischen Schriftsteller und Humanisten Johannes Secundus (1511–1536).
(J. Carrasco, 2015)



Inventare:
  • Catalogue des Tablaux. Kassel 1749, S. 16, Nr. 161.
Literatur:
  • Causid, Simon: Verzeichnis der Hochfürstlich-Heßischen Gemälde-Sammlung in Cassel. Kassel 1783, S. 67, Kat.Nr. 104.
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Versuch eines Verzeichnisses der kurfürstlich hessischen Gemälde-Sammlung. Kassel 1819, S. 1, Kat.Nr. 1.
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Verzeichniß der Kurfürstlichen Gemählde-Sammlung. Cassel 1830, S. 1-2, Kat.Nr. 4.
  • Auszug aus dem Verzeichnisse der Kurfürstlichen Gemälde-Sammlung. Kassel 1845, S. 3, Kat.Nr. 4.
  • Voll, Karl: Die Meisterwerke der königlichen Gemälde-Galerie zu Cassel. München 1904.
  • Gronau, Georg: Katalog der Königlichen Gemäldegalerie zu Cassel. Berlin 1913, S. 24, Kat.Nr. 27.
  • Friedländer, Max J.: Die Altniederländische Malerei. Leiden 1924-36, S. 162 (Bd. 8, 1936), Kat.Nr. 68.
  • Gronau, Georg; Luthmer, Kurt: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel. 2. Aufl. Berlin 1929, S. 45, Kat.Nr. 27.
  • Luthmer, Kurt: Staatliche Gemäldegalerie zu Kassel. Kurzes Verzeichnis der Gemälde. 34. Aufl. Kassel 1934, S. 7, Kat.Nr. 27.
  • Voigt, Franz: Die Gemäldegalerie Kassel. Führer durch die Kasseler Galerie. Kassel 1938, S. 40, Kat.Nr. 27.
  • Vogel, Hans; Bode, Arnold; Schuh, Ernst: Gemälde der Kasseler Galerie kehren zurück. Ausstellung Kunsthistorisches Museum Wien 20.12.1955 - 5.2.1956, Hessisches Landesmuseum Kassel 18.3.1956 - 30.9.1956. Kassel 1955, S. 13, Kat.Nr. 19.
  • Vogel, Hans: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel. Kassel 1958, S. 64, Kat.Nr. 27.
  • Bott, Gerhard; Gronau, Georg; Herzog, Erich; Weiler, Clemens: Meisterwerke hessischer Museen. Die Gemäldegalerien in Darmstadt, Kassel und Wiesbaden. Hanau 1967, S. 128.
  • Herzog, Erich: Die Gemäldegalerie der Staatlichen Kunstsammlungen Kassel. Geschichte der Galerie von Georg Gronau und Erich Herzog. Hanau 1969, S. 40.
  • Schnackenburg, Bernhard: Gemäldegalerie Alte Meister Gesamtkatalog. Staatliche Museen Kassel. 2 Bde. Mainz 1996, S. 126.
  • Ainsworth, Maryan W.: Man, Myth, and Sensual Pleasures. Jan Gossart`s Renaissance. The Complete Works. Ausstellung New York, Metropolitan Museum of Art 05.10.2010 - 17.01.2011. New York 2010, S. 292, Kat.Nr. 27.
  • Lange, Justus; Carrasco, Julia: Kunst und Illusion. Das Spiel mit dem Betrachter. Petersberg 2016, S. 106, Kat.Nr. 33.


Letzte Aktualisierung: 05.09.2023



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