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Der Selbstmord der Lucretia



Der Selbstmord der Lucretia


Inventar Nr.: GK 577
Bezeichnung: Der Selbstmord der Lucretia
Künstler / Hersteller: Guido Cagnacci (1601 - 1663/1681), Maler/in, Kopie nach
Datierung: 1640 - 1645
Objektgruppe: Gemälde
Geogr. Bezug:
Material / Technik: Öl
Maße: 89,7 x 77,5 cm (Bildmaß)
Provenienz:erworben vor 1749 durch Wilhelm VIII.


Katalogtext:
Die tragische Geschichte um Lucretia liefert die Grundlage für den Gründungsmythos der römischen Republik. Von einem Mitglied der Königsfamilie vergewaltigt, nimmt sich die junge Frau das Leben, um sich von der vermeintlichen Schande zu befreien. Ihre Familie schwört Rache und stürzt mit Unterstützung der römischen Bürger das königliche Regime. Die Schändung der Frau steht symbolisch für die tyrannische und willkürliche Herrschaft, der die Demokratie als ehrhafte und volksgebundene Regierungsform gegenübergestellt wird. In dem italienischen Barockgemälde wird Lucretia in einem fokussierten Ausschnitt und aufrecht stehend gezeigt. Auf eine Assistenzfigur oder Idikatoren der Umgebung wird gänzlich verzichtet. Mit leicht geöffnetem Mund wendet sie sich von den Betrachtenden ab in Richtung der rechten Bildseite. Ihr Oberkörper, den sie durch Herabziehen des weißen Gewandes offenlegt, bleibt dabei fast frontal sichtbar. Dadurch wird der gerade ausgeführte Dolchstoß in den Fokus gerückt: Der Dolch steckt bereits in ihrem Leib, unterhalb verläuft eine Blutspur über ihr weißes Gewand. Wenngleich ihr Gesichtsausdruck ihr Leid zum Ausdruck bringt, bleibt ihre Haltung aufrecht und bestimmt. Ihr gefasster Entschluss, ihre Ehre durch die Selbsttötung zu beweisen, wird keinesfalls in Frage gestellt. Ähnlich funktionieren Darstellungen von Märtyrerinnen, die im Annehmen des Schmerzes ihre Hingabe an Gott beweisen. Auch dort finden drastische Emotionen keinen Ausdruck, wenngleich der gewaltsame Akt selbst die Betrachtenden zum Mitgefühl anregt. Die stoische Haltung wiederum fungiert als Tugendexempel und soll Bewunderung und Belehrung evozieren.
Bei dem Gemälde handelt es sich um eine der Wiederholungen der Lucretia, die sich heute in einer Privatsammlung in Forli befindet; eine weitere Fassung findet sich in Bologneser Privatbesitz. Die Versionen folgen allesamt dem gleichen kompositorischen Aufbau und unterscheiden sich nur in Details, wie dem Haarschmuck der Figur oder einem angedeuteten Vorhang im Hintergrund. Solche Frauenbildnisse in halber Figur erfuhren u.a. in Bologna durch die Werkstatt Guido Reni große Beliebtheit. Die Geschichten der „Starken Frauen“, zu denen neben mythologischen Figuren auch christliche Märtyrerinnen gehörten, wurden in thematischen Galerien vereint und dienten dem Diskurs. Die Heroinen konnten einerseits als Opfer einer Misere oder aber auch als selbstbestimmte Akteurinnen gelesen werden. Parallel wurde sich in Texten seit dem 17. Jahrhundert systematisch mit der Frage der starken und schwachen Weiblichkeit auseinandergesetzt, wie beispielsweise in Pierre Le Moynes „Ode à la femme-forte“ (1647).

(M. Rotter, 2024)



Inventare:
  • Catalogue des Tablaux. Kassel 1749, S. 27, Nr. 251.
Literatur:
  • Causid, Simon: Verzeichnis der Hochfürstlich-Heßischen Gemälde-Sammlung in Cassel. Kassel 1783, S. 57, Kat.Nr. 74.
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Versuch eines Verzeichnisses der kurfürstlich hessischen Gemälde-Sammlung. Kassel 1819, S. 47, Kat.Nr. 287.
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Verzeichniß der Kurfürstlichen Gemählde-Sammlung. Cassel 1830, S. 54, Kat.Nr. 329.
  • Auszug aus dem Verzeichnisse der Kurfürstlichen Gemälde-Sammlung. Kassel 1845, S. 36, Kat.Nr. 329.
  • Parthey, Gustav: Deutscher Bildersaal. Verzeichnis der in Deutschland vorhandenen Ölbilder verstorbener Maler aller Schulen. Berlin 1863/64, S. 247 (Bd. 1), Kat.Nr. 20.
  • Aubel, L.; Eisenmann, Oscar: Verzeichniß der in der Neuen Gemälde-Galerie zu Cassel befindlichen Bilder. 2. Aufl. Kassel 1878, S. 31, Kat.Nr. 329.
  • Eisenmann, Oscar: Katalog der Königlichen Gemälde-Galerie zu Cassel. Nachtrag von C. A. von Drach. Kassel 1888, S. 333, Kat.Nr. 538.
  • Herzog, Erich; Lehmann, Jürgen M.: Unbekannte Schätze der Kasseler Gemälde-Galerie. Kassel 1968, S. 20, Abbildung S. 21.
  • Lehmann, Jürgen M.: Staatliche Kunstsammlungen Kassel. Katalog 1. Italienische, französische und spanische Gemälde des 16.-18. Jahrhunderts. Fridingen 1980, S. 61, Abbildung S. 60.
  • Pasini, Pier Giorgio: Guido Cagnacci Pittore (1601-1663). Rimini 1986, S. 234-235, Abbildung S. 235, Kat.Nr. 38b.
  • Schnackenburg, Bernhard: Gemäldegalerie Alte Meister Gesamtkatalog. Staatliche Museen Kassel. 2 Bde. Mainz 1996, S. 74, Abbildung S. Taf. 316 (Bd. II).
  • Pörschmann, Dirk [Hrsg.]; Ahle, Tatjana [Hrsg.]; Lindner, Reinhard [Hrsg.]: Suizid. Let's talk about it! Begleitband zur Ausstellung im Museum für Sepulkralkultur Kassel, Ausstellung 10.09.2021 - 27.02.2022. Bielefeld 2021, S. 237, Abbildung S. 231.
  • Rotter, Malena: Curiosity or an Offer for Reflection? Notes on Suffering in Baroque Depictions of Suicide. In: Marin Barutcieff, Silvia [Hrsg.]: Depicting Emotions in Central and Eastern Europe (2024), S. 43-58, S. 43-47, Abbildung S. 169.


Letzte Aktualisierung: 14.06.2024



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