Die Entführung der Helena durch Paris



Die Entführung der Helena durch Paris


Inventar Nr.: 1875/699
Bezeichnung: Die Entführung der Helena durch Paris
Künstler / Hersteller: Johann Heinrich d. Ä. Tischbein (1722 - 1789), Maler/in
Datierung: um 1757; 1787
Objektgruppe: Gemälde
Geogr. Bezug: Kassel
Material / Technik: Leinwand, doubliert
Maße: 84,5 x 104,5 cm (Bildmaß)
Provenienz:im landgräflichen Auftrag; 1792 Schloss Weißenstein, Erdgeschoss, Hauptsaal; 1804 Schloss Wilhelmshöhe, Erdgeschoss, Weißensteinflügel, Hauptsaal; 1805 Schloss Wilhelmshöhe, Audienzsaal; 1815 Schloss Wilhelmshöhe, Kirchflügel; 1824 Schloss Wabern; 1827 Schloss Wilhelmshöhe; 1827 u. 1830 Gemäldegalerie; 1864 Schloss Bellevue; 1877 Neue Gemäldegalerie
Beschriftungen: Signatur: bez. u.l. (auf dem Stein): J H Tischbein pinx: 1787.


Katalogtext:
Tischbein d. Ä. hat die Entführung der schönen Helena durch den trojanischen Königssohn Paris, von der Homer in der »Ilias« (III, 174-288) und Ovid in den »Heroides« (XVI, 259) berichten, in der geläufigen Szene der Einschiffung wiedergegeben. Das Geschehen findet vor einer Stadtkulisse mit Zinnen und Wehrtürmen statt und vor einem graublau verhangenen Himmel, der in der linken oberen Bildecke hell aufreißt und die Stimmung des Gemäldes maßgeblich prägt. Paris, der Helena in den Armen hält, hat soeben über einen Holzsteg das Beiboot betreten, mit dem ihn drei kräftige Männer zum prächtigen trojanischen Schiff rudern, das im graublauen Dunst am rechten Bildrand auszumachen ist. Ein weiteres Ruderboot ist schon auf dem Weg. Zahlreiche Pentimenti bei den drei Männern zeigen, dass Tischbein das Beiboot zunächst anders angeordnet hatte.
Die bewegte Gruppe der Ruderer, deren muskulöse Oberkörper an Figuren der venezianischen Malerei des 17. Jahrhunderts erinnern, steht im Gegensatz zu der statischen Gruppe der beiden Dienerinnen, die in Begleitung eines Hundes, als Zeichen ihrer Treue, am Kai von Helena Abschied nehmen. Zwei weitere Dienerinnen, durch die Rückenansicht und ihre verschatteten Gesichtszüge kaum zu erkennen, befinden sich auf dem Beiboot zwischen Paris und Helena und den Ruderern. Die beiden Hauptfiguren, die in der Bildmitte positioniert sind, erhalten zusätzliches Gewicht durch Lichtführung und Farbgebung. Während Paris durch seinen roten Helmbusch bezeichnet ist, tritt die elegant gekleidete Helena durch ihre weißgelben antikischen Gewänder und den hellroten Mantel als zentrale Bildfigur hervor.
Das Sujet war Tischbein nicht zuletzt aus der Kasseler Gemäldesammlung vertraut, durch Antonio Belluccis (1654-1726) großformatige »Entführung der Helena durch Paris« (MHK, Gemäldegalerie Alte Meister, GK 565a), wenngleich sich Komposition und Bildaussage von Tischbeins Version grundsätzlich unterscheiden. Tischbein hat das Gemälde mit »1787« signiert. Farbgebung und Bildaufbau entsprechen aber eher seinem Frühwerk, in dem Ganzfigurenkompositionen dominieren. Seit den 1770er Jahren bevorzugte er hingegen Halbfigurenkompositionen, in denen die Protagonisten im unmittelbaren Vordergrund erscheinen. Auch arbeitete er mit kontrastreicheren Farben. Erich Herzog ist deshalb zu dem Schluss gekommen, dass die »lockere, sehr räumliche Komposition offenbar in den 1750er Jahren entstand«, aber die »zahlreichen, durchgewachsenen Veränderungen beweisen, daß Tischbein das vielleicht unvollendete Bild 1787 überarbeitete und signierte«. Tiegel-Hertfelder hat als Entstehungsbeginn die Zeit um 1757 vorgeschlagen, als Tischbein sein erstes Bilderpaar aus der »Ilias« malte, die Gemälde »Der Kampf des Menelaos mit Paris« und »Thetis zeigt Achill seine neuen Waffen«, die beide im Weißensteinflügel von Schloss Wilhelmshöhe hängen (MHK). Die »Entführung der Helena«, die sich seit 1792 in Schloss Weißenstein nachweisen lässt, hing mit diesen beiden Gemälden und einigen anderen Werken Tischbeins, vornehmlich aus den 1780er Jahre, im Hauptsaal der landgräflichen Gemächer. Engelschall (1797, S. 134, Nr. 69,3) zufolge enthielt Tischbeins Nachlass eine Skizze zum »Raub der Helena«, über deren Aussehen und Verbleib aber nichts bekannt ist (vgl. Tischbein, Nachlassverzeichnis, S. 46, Nr. 18d).
(S. Heraeus, 2003)



Archivalien:
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand [zusammengestellt von]: Verzeichniß der Gemälde auf Wilhelmshöhe im Kurfürstl. Schloß daselbst. 1815, Nr. 11.
Literatur:
  • Apell, David von: Cassel und die umliegende Gegend. Eine Skizze für Reisende. Kassel 1792, S. 103, Kat.Nr. 12.
  • Engelschall, Josef Friedrich: Johann Heinrich Tischbein d. Ä., ehemaliger Fürstlich-Hessischer Rath und Hofmaler, als Mensch und Künstler dargestellt, nebst einer Vorlesung von Casparson. Nürnberg 1797, S. 113, Kat.Nr. 133.
  • Döring, Wilhelm: Beschreibung des Kurfürstlichen Landsitzes Wilhelmshöhe bey Cassel. Kassel 1804, S. 17, Kat.Nr. 12.
  • Apell, David von: Cassel in historisch-topographischer Hinsicht. Nebst einer Geschichte und Beschreibung von Wilhelmshöhe und seinen Anlagen. Marburg 1805, S. 33 (Teil 2).
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Versuch eines Verzeichnisses der kurfürstlich hessischen Gemälde-Sammlung. Kassel 1819, S. 123, Kat.Nr. 761.
  • Robert, Ernst Friedrich Ferdinand: Verzeichniß der Kurfürstlichen Gemählde-Sammlung. Cassel 1830, S. 145, Kat.Nr. 886.
  • Auszug aus dem Verzeichnisse der Kurfürstlichen Gemälde-Sammlung. Kassel 1845, S. 82, Kat.Nr. 886.
  • Parthey, Gustav: Deutscher Bildersaal. Verzeichnis der in Deutschland vorhandenen Ölbilder verstorbener Maler aller Schulen. Berlin 1863/64, S. 641 (Bd. 2), Kat.Nr. 16.
  • Aubel, Carl: Verzeichnis der in dem Lokale der Neuen Gemälde-Gallerie zu Cassel befindlichen Bilder. Kassel 1877, S. 76, Kat.Nr. 891b.
  • Eisenmann, Oscar: Katalog der Königlichen Gemälde-Galerie zu Cassel. Nachtrag von C. A. von Drach. Kassel 1888, S. 388, Kat.Nr. 680.
  • Woermann, Karl: Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker, Bd. 6: Die Kunst der jüngeren Neuzeit von 1750 bis zur Gegenwart. 2. neubearb. u. verm.. Aufl. Leipzig 1922, S. 93.
  • Luthmer, Kurt: Die hessische Malerfamilie Tischbein. Verzeichnis ihrer Mitglieder und einer Auswahl ihrer Werke. Kassel 1934, S. 20, Kat.Nr. 73.
  • Herzog, Erich [Bearb.]: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. 1722-1789. Kassel 1964, S. 9, Kat.Nr. 17.
  • Lehmann, Jürgen Michael: Italienische, französische und spanische Gemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts. Fridingen 1980, S. 44.
  • Marianne Heinz [Bearb.]; Erich Herzog [Bearb.+ Hrsg.]: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722 - 1789), Kassel trifft sich - Kassel erinnert sich in der Stadtsparkasse Kassel. Kassel 1989, S. 191, Kat.Nr. A 17.
  • Tiegel-Hertfelder, Petra: "Historie war sein Fach". Mythologie und Geschichte im Werk Johann Heinrich Tischbeins d. Ä. (1722-1789). Worms 1996, S. 379, Kat.Nr. G 124.
  • Heraeus, Stefanie [Bearb.]; Eissenhauer, Michael [Hrsg.]: Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel. Kassel [u.a.] 2003, S. 247-248, Kat.Nr. 210.
  • Weber, Simone: Versuch der Rekonstruktion der Bildnisgalerie von Wilhelm IX. im Weißensteinflügel, in: Jahrbuch der Museumslandschaft Hessen Kassel 2012, Petersberg 2013, S. 102-107, S. 102-107.


Letzte Aktualisierung: 15.12.2020



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