Narziss



Narziss


Inventar Nr.: GK 927
Bezeichnung: Narziss
Künstler / Hersteller: Johann Heinrich d. Ä. Tischbein (1722 - 1789), Maler/in
Datierung: um 1770
Objektgruppe: Gemälde
Geogr. Bezug: Kassel
Material / Technik: Leinwand, doubliert
Maße: 32,5 x 39,5 cm (Bildmaß)
Provenienz:erworben 1928 von Frau Oberst von Homeyer, Darmstadt; 1797 »im Tischbeinischen Hause zu Kassel« (Engelschall); 1790 im Nachlass Tischbeins


Katalogtext:
Die Sage vom schönen Jüngling Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, als er nach der Jagd an einer Quelle seinen Durst stillen möchte, ist in Ovids »Metamorphosen« (III, 407-510) überliefert. Anders als in den figurenreichen Szenen, etwa von Gérard de Lairesse (Darmstadt, Hessisches Landesmuseum) und Johann Conrad Seekatz (Frankfurt, Goethe-Museum), wo Narziss am Beckenrand eines Brunnens sitzt und mehrere Putti – bei Seekatz auch noch Venus und die Nymphe Echo – zugegen sind, hat Tischbein d. Ä. den Jüngling ohne weitere Bildfiguren und narrative Details in einer einsamen Waldlichtung wiedergegeben. Das rechte Bein ausgestreckt und den linken Arm aufgestützt, sitzt er auf einem Stein, auf dem er sein blaues Gewand abgelegt hat, am Rande eines Gewässers und betrachtet versunken sein Antlitz in der ruhigen, klaren Wasseroberfläche. Die Geste des rechten angewinkelten Arms mit der leicht erhobenen Hand drückt sein Erstaunen und seine Bewunderung für das Spiegelbild aus.
Die Komposition erinnert in ihrer sparsamen Schilderung an den um 1725 bis 1728 entstandenen »Narziss« von François Le Moyne (Paris, Louvre), mit dessen Werk sich Tischbein immer wieder befasst hat. Auch in Le Moynes Gemälde, der ebenfalls ein querrechteckiges Bildformat wählte, sitzt Narziss alleine an einer Quelle im Wald. Doch nimmt die Figur weniger Raum ein und ist stärker eingebunden in die Szenerie der einsamen Waldlandschaft. Das Kasseler Gemälde wird hingegen beherrscht von dem diagonal ins Bild gesetzten, unbekleideten Körper des Jünglings, der nahezu das gesamte Format ausfüllt. Mit dem rechten ausgestreckten Fuß am unteren Bildrand erhebt sich Narziss im unmittelbaren Vordergrund, direkt vor den Augen des Betrachters. Gewisse räumliche Tiefe erhält die Komposition durch eine zweite Diagonale, einen schmalen Weg, der zur Rechten des Jünglings in die Ferne führt und den Blick freigibt auf einen Ausschnitt des Himmels und eine schemenhaft am Horizont auszumachende Hügelkette.
Lange Zeit galt das Gemälde als Werk Johann August Nahls d. J., auch wenn bemerkt wurde, dass der »Knabenakt ganz in der Art Bouchers« gemalt sei und die anderen Werke Nahls, etwa »Pyramus und Thisbe« (1875/1053) und »Merkur und Diana« (1875/1054), einen »völlig veränderten Stil« zeigten (Becker 1971, S. 46). Erich Herzog hat das Gemälde Tischbein d. Ä. zugeschrieben. Vor allem in der Behandlung von Narziss’ Körper und dessen stark ausgebildeter Muskulatur, die durch das von links einfallende, sanfte Licht umschrieben wird, zeigen sich deutliche Parallelen zum Körper des toten Adonis in Tischbeins Gemälde von 1770 (Weißensteinflügel, Inv. Nr. SM 1.1.780) und dessen, wohl ebenfalls zu dieser Zeit entstandener, Supraporte in Schloss Arolsen.
Die Verwechslung von Tischbein d. Ä. mit Nahl dürfte auf das Nachlassverzeichnis von Wilhelm Nahl aus dem Jahr 1881 zurückgehen, in dem unter »Nahl d. J.« ein »Narzissus« angeführt ist (Nahl, Nachlassverzeichnis, S. 41, Nr. 140). Die angegebenen Maße stimmen aber nicht mit dem vorliegenden Bild überein, zumal das dort erwähnte Gemälde, dessen Verbleib nicht bekannt ist, mit »A. Nahl Romae 1788« bezeichnet sein soll. Weitere Belege für die Autorenschaft Tischbeins d. Ä. finden sich in dessen Nachlassverzeichnis von 1790, in dem ein »Narziß« auftaucht, dessen Bildmaße ziemlich genau mit dem vorliegenden Werk übereinstimmen, auch wenn dort Höhe und Breite verwechselt sind. Auch Engelschall führt in seiner Tischbein-Monographie einen Narziss an, »wie er sich mit Wohlgefallen in einer Quelle spiegelt«. Als Pendant nennt er »Die Nymphe Echo im Bad«, dessen Verbleib nicht bekannt ist.
Formale Ähnlichkeit mit dem Gemälde hat Tischbeins Rötelstudie eines männlichen Aktes (Privatbesitz), dessen Sitzhaltung an die des Narziss erinnert. Beide Arme aufgestützt und das eine Bein unter das ausgestreckte andere geschoben, sitzt die männliche Gestalt auf einem Stein und wendet sich wie Narziss zur Seite – wenn auch spiegelbildlich zu diesem – und sinnt vor sich hin.
(S. Heraeus, 2003)



Literatur:
  • Nachlaß des im August vorigen Jahres alhier verstorbenen Raths und Professoris auch Directoris der hiesigen Maler Academie Herrn Johann Heinrich Tischbein, an Tableaux, Portraits, Kupferstichen und Zeichnungen. Kassel 1790, S. 4, Kat.Nr. 42.
  • Engelschall, Josef Friedrich: Johann Heinrich Tischbein d. Ä., ehemaliger Fürstlich-Hessischer Rath und Hofmaler, als Mensch und Künstler dargestellt, nebst einer Vorlesung von Casparson. Nürnberg 1797, S. 113, Kat.Nr. 128.
  • Gronau, Georg: Nahl-Ausst. im Kunstverein Cassel. In: Kunstchronik (1911), S, S. 140.
  • Jahrhundertausstellung deutscher Kunst 1650-1800. Darmstadt 1914, S. 108, Kat.Nr. 435.
  • Biermann, Georg: Deutsches Barock und Rokoko. Leipzig 1914, S. XXXVIII, 504 (Bd. 2), Kat.Nr. 860.
  • Hamann, Richard: Die deutsche Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus. Leipzig 1925, S. 76.
  • Pückler-Limpurg, Siegfired Graf: Der Klassizismus in der deutschen Kunst. München 1929, S. 204.
  • Vogel, Hans: Handzeichnungen Johann Heinrich Tischbeins d. Ä. in Justischem Familienbesitz. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz (1963), S. 285-292, S. 291.
  • Becker, Wolfgang: Paris und die deutsche Malerei 1750-1840. München 1971, S. 45.
  • Marianne Heinz [Bearb.]; Erich Herzog [Bearb.+ Hrsg.]: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722 - 1789), Kassel trifft sich - Kassel erinnert sich in der Stadtsparkasse Kassel. Kassel 1989, S. 191, Kat.Nr. A 10.
  • Tiegel-Hertfelder, Petra: "Historie war sein Fach". Mythologie und Geschichte im Werk Johann Heinrich Tischbeins d. Ä. (1722-1789). Worms 1996, S. 342, 406, Kat.Nr. G 58.
  • Heraeus, Stefanie [Bearb.]; Eissenhauer, Michael [Hrsg.]: Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel. Kassel [u.a.] 2003, S. 235-236, Kat.Nr. 202.
  • Sagen! Vom Erzählen zwischen Antike und digitalem Zeitalter. Zum 200. Jahrestag der Deutschen Sagen der Brüder Grimm. Grimmwelt Kassel, Ausstellung November 2017 bis Mai 2018. Kassel 2018.


Letzte Aktualisierung: 10.03.2023



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