Ausruhender Apollon (Typ Lykeios)



Ausruhender Apollon (Typ Lykeios)


Inventar Nr.: Sk 5
Bezeichnung: Ausruhender Apollon (Typ Lykeios)
Künstler / Hersteller: Praxiteles, Kopie nach
Datierung: 80 - 90 n. Chr.
Datierung:80 - 90
Griechisches Vorbild:340 - 330 v. Chr.
Objektgruppe: Skulptur
Geogr. Bezüge: Römisches Reich
Material / Technik: Weißgrauer, feinkristalliner Marmor
Maße: Torso 115,5 cm (Höhe)
Brustwarzen 23 cm (Distanz)
linke Brustwarze bis Penisansatz 44,5 cm (Distanz)
rechte Brustwarze bis Penisansatz 41 cm (Distanz)
Halsgrube bis Penisansatz 49 cm (Distanz)
Provenienz:erworben 1777 durch Landgraf Friedrich II. in Rom bei Gavin Hamilton


Katalogtext:
Die gegensätzlichen Bewegungen von Rumpf und Beinen sowie die motivischen Kontraste von angespannter, aktiver und entlasteter, gestützter Körperseite vereinheitlicht ein durch die Figurenmitte führender abgestuft S-förmiger Schwung, der auf der nachlässiger ausgeführten Rückseite linear vereinfacht wiederkehrt. Die ziemlich eng geführten Oberschenkel weisen beide die Tendenz einer Schrägstellung zur Spielbeinseite hin auf und folgen darin typischen Beinstellungen spätklassischer Statuen (Agias Delphi, Hermes Olympia, Schaber Wien u. a.) mit nahezu auf gleicher Höhe ganzsohlig auftretenden Füßen. Das rechte Standbein und der etwas auswärts und nach vorn gerichtete Oberschenkel des Spielbeins bewirken einen kräftigen Schrägstand des Beckens mit Absenkung auf der entlasteten linken Körperseite. Der Unterkörper mit hochgezogenen unathletischen Leistenlinien, weicher Modellierung des Unterbauches und unbehaartem Schamhügel erscheint schmalhüftig und betont jugendlich. Über der hochsitzenden Taille ist der muskulöse Oberkörper auf der Spielbeinseite gestreckt und auf der Standbeinseite mit dem erhobenen rechten Arm etwas gestaucht. Der rechte Oberarmstumpf ist dicht neben dem Halsansatz steil erhoben und etwas nach vorn gerichtet. Der anliegende linkeOberarmansatz ist gesenkt und zurückgenommen; die Schulterkugel angehoben. Nach dem Halsansatz zu schließen folgte der leicht vorgestreckte Kopf der Oberkörperbewegung zur rechten Seite und wendete sich nach links. Der neuzeitlich abgearbeitete große Puntello an der linken Hüfte könnte zu einer nebenstehenden Statuenstütze geführt oder aber lediglich den frei gehaltenen Arm mit vorgestrecktem Unterarm im Bereich des Ellenbogens gesichert haben (vgl. den Bogen haltenden Arm des Apollon Kassel Kat. 1.4). Die Fehlstellen am Glutäus und Oberschenkel des Standbeins sind noch nicht schlüssig zu erklären: vielleicht neuzeitliche Entfernung von Marmorfehlern oder von vormals eingelassenen Stützen? Bei der Montage des Standdübels haben wir auf eine figurentypisch steiler erwünschte Standbeinposition verzichtet, um den Torso annähernd in Balance und drehbar zu halten und um weitere Standhilfen zu vermeiden, die bei stärkerer Rückenlage und Neigung zur Spielbeinseite unumgänglich gewesen wären.

Der schlanke Torso gehört zu einem jugendlich männlichen Standbild in markanter Haltung und Bewegung. Analog zu damals bekannten und verwandten Apollonfiguren wurde der Torso im 18. Jh. ikonographisch annähernd zutreffend mit dem antiken Kopf Kat. 2.3 und modernen Ergänzungen zu einem Apollon mit Leier vervollständigt, der durch zu steile Aufrichtung sich auf der linken Seite nicht aufstützte, sondern in ergänztem Schrittstand lässig eine kleine Leier auf einem Baumstamm mit Gewand abgesetzt hielt (s. hier Abb.). Mit dem Erwerb 1777 hat Landgraf Friedrich II. seinem Anliegen, lebensgroße Statuen und ihre handlichen, kleinformatigen Reproduktionen zu sammeln, erneut frönen können, indem er nämlich den 1750 und 1777 erstandenen Kleinbronzen diese bildlich sehr nahestehende, etwas überlebensgroße Marmorstatue, vervollständigt in Anlehnung an den Florentiner Apollino, hinzufügte (Schweikhart 1979). Im Musée Napoléon 1807–1815 erfolgte die Identifizierung dieses Figurentypus eines ausruhenden Apollon mit der von Lukian (Anarchasis 7) erwähnten Statue in dem Apollon Lykeios gewidmeten Athener Gymnasion. Die Bestandsdokumentationen und Kopienrezensionen haben seither diese vorgeschlagene Identifizierung im Wesentlichen bekräftigt und zu einer Typenklärung beigetragen (Nagele 1984, Johnston Milleker 1986, Schröder 1986, Vorster 1993, Herzog 1996). Das Original wird von den meisten Forschern in die zweite Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. datiert (anders Nagele 1984, Landwehr 1998). Die Zuschreibung an Praxiteles und die Entscheidung über das Material, Marmor oder Bronze, kommen über das Stadium plausibler Annahmen nicht hinaus (zuletzt Herzog 1996). Vollständige Klarheit für das zu rekonstruierende Vorbild besteht auch noch nicht über das Motiv des Stützens oder Anlehnens, über die Größe (H ca. 2,20 m oder 1,90 m) und einige wichtige Details der Körpermodellierung. Die meisten Kopien überliefern neben dem Spielbein eine Armstütze in Form unterschiedlich ausgestalteter Baumstämme; einzig einen Dreifuß hat die Statuettenreplik Dresden Hm 127 (zuletzt Protzmann 2000). Die mit dem Lukianzitat in Verbindung gebrachten Münzbilder, die Interpretation der Figur mit dem Motiv des Anlehnens an eine Stele (Dreifuß-Anathem?) in dem Lykeion sowie der Befund an der Torsoreplik Piazza Armerina führen zu einer modifizierten Rekonstruktion des Originales mit historisch einleuchtender Datierung und aitiologischer Deutung (Schröder 1986, Herzog 1996). Danach stand der ausruhende Apollon mit dem Rücken an eine hohe Säule gelehnt, die hinter dem Spielbein aufragte und von einem Dreifuß bekrönt wurde. In dem linken angewinkelt vorgestreckten Arm hielt er etwa parallel zur Körperflanke einen Bogen. Wie nach großer Anstrengung ausruhend hatte er den rechten Arm mit dem Handgelenk auf dem Kopf zurückgelegt. Jugendlichkeit wird hervorgehoben durch die Stirnzopffrisur, durch das Fehlen der Schambehaarung und durch die noch weichliche Formung des Unterkörpers bei einsetzender Muskelbildung des Oberkörpers infolge gymnasialer Trainingsübungen. Als Kultstatue im Gymnasion verkörpert Apollon Lykeios das Ideal der ca. 16 bis 18 Jahre alten Jünglinge vor ihrem Eintritt in die paramilitärische Ephebie für 18- bis 20-Jährige mit Kurzhaarfrisur, um anschließend in die Männergesellschaft aufgenommen zu werden. Vielleicht ist die Statue anlässlich der Errichtung eines neuen Gymnasions aufgestellt worden, das Lykourgos (s. Kat. 3.2) im Lykeion nach 336/335 v. Chr. errichten ließ.

Der Kasseler Torso kann für die Rekonstruktionsfrage – seitlich aufgestützt oder rückseitig angelehnt – keine eindeutigen Indizien beisteuern. Weder die Abplatzungen bzw. Ausbrüche am linken Schulterblatt und linken Glutäus noch die Fehlstellen hinten am Standbein sind zweifelsfrei mit einer Anlehnung an eine rückwärtige Stütze in Verbindung zu bringen. Ebenso bleibt der Puntello an der linken Hüfte mehrdeutig: Verbindungssteg zur Stütze oder zum Arm. In der errechneten Gesamthöhe von ca. 1,90 m geht das Kasseler Exemplar mit der Torsoreplik Lateran überein (Vorster 1993). Die des öfteren genannten Abweichungen (Proportionierung, S-förmiger Schwung, Haltung) sind unserem Torso nicht in dem Maße zu eigen, dass er als Variante aus der Replikenreihe entfernt und stilistisch in die Nähe des anders ponderierten und rhythmisierten Florentiner Apollino gerückt werden könnte (so Schröder 1986).

Eine genaue Kopienrezension steht noch aus (Vorster 1993), um den Figurentypus Apollon Lykeios und sein außerordentlich vielfältiges Fortwirken in hellenistischer und römischer Zeit weiter zu erforschen.

(Gercke 2007)



Literatur:
  • Bieber, Margarete: Die antiken Skulpturen und Bronzen des Königlichen Museum Fridericianum in Cassel. Marburg 1915, Kat.Nr. 20.
  • Savoy, Bénédicte: Patrimoine annexé: Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800. Paris 2003, S. 8, Kat.Nr. 2a.
  • Gercke, Peter; Zimmermann-Elseify, Nina: Antike Skulpturen und Neuzeitliche Nachbildungen in Kassel. Bestandskatalog. Mainz 2007, S. 97-99, Kat.Nr. 21.


Letzte Aktualisierung: 15.04.2024



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