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Apollon Typ Kassel



Apollon Typ Kassel


Inventar Nr.: Sk 3
Bezeichnung: Apollon Typ Kassel
Künstler / Hersteller: Pheidias (479 BC - 432 BC), Kopie nach
Datierung:
Datierung:90 - 130 n. Chr. (GND: 4076778-4 / Datiert nach Römischem Reich)
Datierung:460 - 450 v. Chr. (GND: 4093976-5)
Funddatum:1721
Objektgruppe: Skulptur
Geogr. Bezüge:
Römisches Reich
Fundort: Lago di Sabaudia
Material / Technik: Weißer, mittel- bis grobkristalliner Marmor
Maße: Figur 199,5 cm (Höhe)
Plinthenrest 6 cm (Höhe)
Provenienz:vermutlich Slg. Conti, Rom; Erworben durch Landgraf Friedrich II. in Rom.


Katalogtext:
Der Figurentypus wird seit 1876 nach der vollständigsten Wiederholung Kasseler Apollon genannt, um ihn von den übrigen Bildern dieses Gottes in der attischen Kunst des 5. Jhs. v. Chr. zu unterscheiden. Bisher sind 26 römische Wiederholungen bekannt: zwei Statuen, fünf Torsen und 15 Einzelköpfe in etwa maßgleichen, leicht überlebensgroßen Repliken, ferner zwei Statuettentorsen und zwei Kleinbronzen; überdies ist die Figur im rechtenProfil auf hellenistischen und römischen Münzen Athens sowie anscheinend auf einer Gemme wiedergegeben. Die 1973/74 neu zusammengesetzte, nun exakt ponderierte Statue stellt den Gott hoch aufgerichtet in idealer Nacktheit dar. Barfüßig steht Apollon in engem Schrittstand mit den Sohlen beider Füße auf der Plinthe. Den Fuß des Spielbeins hat er nur geringfügig vorgesetzt und auswärts gerichtet. Der Körperbau ist kräftig bis athletisch. Die im Wesentlichen frontal ausgerichtete Figur wendet den Kopf hinüber zur linken Standbeinseite und scheint bei geringer Kopfneigung über die vorgestreckte Hand mit Pfeil und Bogen hinweg zu blicken. Das Ponderationsmotiv des säulenhaft tragenden Standbeins und des angewinkelt entlasteten Spielbeins setzt sich im Unterkörper durch Hebung und Senkung der Leistenlinie und Hüften fort, wird aber in Taillenhöhe deutlich abgeschwächt. Der Oberkörper mit breit entfalteter Brust ist verhalten und im Gegensinn ponderiert durch die leicht gesenkte linke und die etwas angehobene rechte Schulter. Der straff gewinkelte linke Arm mit Bogen umschließender Hand und der locker vom Körper abgestreckte, gesenkte rechte Arm mit halb geöffneter Hand vermitteln zwischen der gegensätzlichen wie ausgleichenden Ponderation der Figur. In kompositorischer Verschränkung wird der Bewegungsimpuls des Kopfes und des vorgestreckten Unterarms auf der Standbeinseite wieder aufgenommen von dem seitlich und nach vorn gehaltenen rechten Unterarm und dem vorstoßenden Knie auf der Spielbeinseite.

Die aufwendige und prächtige Langhaarfrisur mit Schulterlocken betont den groß und klar geformten Kopf und rahmt das volle Oval des Gesichtes. Die kräftige Nase bildet im Profil eine durchgehende Linie mit der Stirn. Die großen, schmalen und leicht gesenkten Augen unter schwach gewölbten Brauenbögen sind von kantigen Lidern mandelförmig umschlossen. Der Mund mit schwellenden Lippen ist beide Zahnreihen zeigend leicht geöffnet, um die belebende Atmung und das Verlautbaren als Orakelgott anzudeuten. Zum Ausdruck körperlicher Kraft und Vollkommenheit im besten Mannesalter gehört seit archaischer Zeit auch die gepflegte, schön geordnete Frisur. Von dem Wirbel auf der Kalotte sind gleichmäßig gewellte, flache Strähnen nach allen Seiten gekämmt und von einem Reifen dicht an den Kopf gedrückt. Darunter ist das Haar hinter den Ohren zu zwei Zöpfen geflochten, die eng um die Kalotte gebunden sind und sich hinten unter einem breiten Zopfband in der Mitte kreuzen. Aus dem unteren Zopf hängen hinter den Ohren zwei Korkenzieherlocken am Hals hinab bis zu den Schlüsselbeinen. Aus dem nach vorn gekämmten Kalottenhaar und den Stirn-Schläfenhaaren ist unterhalb des Reifens eine fünflagige gebauschte Frisur mit Mittelscheitel entwickelt. Ihre kurzen zu den Seiten geführten Locken enden spiralig; sie verdecken den Stirnansatz, die Schläfen und die oberen Ohrränder. Der leicht aus der Stirnmitte nach rechts verschobene Scheitel zeigt besonders deutlich die dem Kopf eigenen Asymmetrien an, die bei Vorderansicht der Figur die seitliche Kopfwendung perspektivisch zum Ausgleich bringen.

Neben dem Standbein hat der Kopist eine Statuenstütze in Form eines glatten, mit reliefiertem Köcherband verzierten Baumstammes und eines außen anschließenden Köchers stehengelassen. Die materielle Versteifung zwischen Kniebereich und Plinthe dient dazu, die Standsicherheit der Statue mit ihrem hochgelegenen Schwerpunkt zu stärken und die Bruchgefährdung der die Figurenlast tragenden Fesseln zu mindern. Die knappe Modellierung der flach gewölbten Muskulatur und die geringen plastischen Schwellungen teilt die Kasseler Kopie bis auf minimale Differenzen mit den übrigen Wiederholungen wie der Replikenvergleich anhand der neuen Gipsabgüsse bestätigt (Schmidt 1966; P.Gercke in: AK Kassel 1991, Kat. 1 bis 6. 24 bis 27). Einerseits können sowohl die kopistentypische Arbeitsweise als auch der traianisch-hadrianische Arbeitsstil zu einer vereinfachenden Übertragung einer Bronzefigur in Marmor beitragen – andererseits ist an griechischen Bildwerken seit der Frühklassik zu beobachten, dass die Körperdarstellungen zunehmend ikonographisch zu differieren beginnen, um Alter und Darstellungsmotiv der Göttergestalten, hochtrainierten Athleten, Heroen und kampfbereiten Krieger vorzüglich zu erfassen. Für den konstant bildschönen Jüngling Apollon erscheint diese Körperdarstellung vortrefflich angemessen. Der bildhauerischen Reinigung und Überarbeitung unserer Statue im 18. Jh. sind vor allem die nachgezogenen Furchen, scharfkantigen Linien und Einebnungen geschälter Flächen (z. B. im Gesicht und besonders im Bereich von Anstückungen) anzulasten; immerhin hat die damals vermutlich nach der Auffindung notwendige Freilegung der hochplastischen Frisur mit ihren gedrechselten Haaren und tiefen Bohrlöchern und teils unterschnittenen Bohrgängen noch etwas von der ursprünglichen Farbfassung bewahrt.

Die linke Hand umfasst das Mittelstück eines Bogens, der frei nach oben und nach unten bis zur sichernden Metallstiftung am linken Oberschenkel zu ergänzen ist. Die zu erschließende Länge und Richtung des Bogens für die Kasseler Replik stimmen mit den seitenansichtigen Münzbildern überein. In der Form ist entweder ein S-Bogen analog den Münzbildern und der im 5. Jh. v. Chr. gebräuchlichen Waffenart vorzustellen oder ein damals unzeitgemäßer Stabbogen, den Apollon auf den bildlichen Darstellungen des 5. Jhs. als altehrwürdiges überzeitliches Attribut bei sich führt, zu ergänzen. Der vorgekrümmte linke Mittelfinger wird zwei Pfeile von ca. halber Bogenlänge gehalten haben wie Apollon und Artemis sowohl bei entspanntem als auch angezogenem Bogen auf Vasenbildern; diesen Fingergestus zeigen auch Bilder sonstiger aktiver Bogenschützen, die einen Pfeil bereits aufgelegt haben und einen zweiten schußbereit halten. Die Ergänzung mit einem kräftigen Lorbeerzweig in der rechten Hand legen die römischen Bronzemünzen und die halb zugreifende, nun leere rechte Hand der Kasseler Replik nahe. Art und Größe des etwa horizontal vorgestreckten Lorbeerzweiges bleiben ungewiß.

Ikonographisch und kompositorisch vervollständigen die Attribute das Götterbild wesentlich. Im Original dürften sie aus Metall gewesen sein. Der vorgehaltene Lorbeerzweig des entsühnenden heilenden Gottes verstärkt bewegungs- und handlungsaktiv die Spielbeinseite. Der fast vertikal gehaltene Bogen mit Pfeilen des Licht sendenden und strafenden Fernhintreffers unterstreicht zum einen die zurückgenommene und in Ruhe verharrende Standbeinseite, zum anderen fügt sich der schräg nach vorn gehaltene Bogen der Kopfwendung und Blickrichtung des Gottes ein.

Die Kasseler Statue überliefert im Figurenaufbau, Ponderationsmotiv, Frisurentypus und in der Kopfform das verlorene Original nahezu vollständig und sehr verlässlich, soweit anhand der übrigen fragmentarischeren Kopien darüber zu befinden ist. Die grundlegende kopienkritische Untersuchung von Schmidt (1966) ergab, dass die Kasseler Marmorstatue mit großer Wahrscheinlichkeit in hadrianischer Zeit nach einem Gipsabguß des Bronzeoriginals in einem italisch-römischen Kopistenatelier hergestellt wurde und vermutlich in der Nische eines eigenen Saalbaues am Seeufer neben dem Thermenareal einer kaiserlichen Villa am Lago di Sabaudia aufgestellt war, wo sie 1721 ausgegraben wurde (zuletzt Lummel 1991).

Auch die nun hinzugekommenen Wiederholungen bestätigen die bisher für das Original erschlossene Konzeption. Die Kleinbronze Kassel Br 742 (Abb.) lässt das Figurenschema des Statuentyps trotz der fehlenden linken Hand, der Füße und Attribute klar erkennen. Die Proportionen und die plastische Formgebung sind verändert wie bei miniaturisierten Wiederholungen geläufig (Bartman 1992, 25 f.). Diese Kleinbronze bestätigt das Fortwirken des Statuentyps in kleinformatiger Version über das verschollene Berliner Exemplar hinaus. Auch die marmorne Kopfreplik, Kunsthandel Palladion/Basel 1992, gehört mit der Frisur und den Gesichtsformen zu den detailgetreuen Wiedergaben; die Bohrarbeit für die Haarmodellierung und die Iris mit Pupille sowie das polierte Inkarnat teilt der Kopf mit mittel- bis spätantoninischen Kopfrepliken wie Rom Museo Capitolino 2013.

Die zahlreichen formatgetreuen Kopien und bildlichen Wiederholungen bezeugen das Bestreben, ein berühmtes Original möglichst exakt wiederzugeben. Einhellig wird es als Bronzestatue der frühen Hochklassik vorgestellt. Sowohl die stilgeschichtliche Einordnung in die Bildhauerkunst Athens um 460/50 v. Chr. als auch das kopienkritisch erschlossene toreutische Original des Kasseler Apollon werden durch die Statue A der beiden 1972 gefundenen Bronzekrieger von Riace in Reggio di Calabria bekräftigt. Der Kasseler Apollon ist innerhalb der frühklassischen Ikonographie dieses Gottes als die fortschrittlichste Fassung vom Typus des stehenden Mannes zu werten und kann durchaus als eigenständiger künstlerischer Beitrag im Wettbewerb mit den in der neuen Ponderation agierenden Heroen- und Athletenstatuen von Polyklet gewürdigt werden.


Münzbilder und Identifizierungen

Kleine figürliche Beizeichen auf den Münzrückseiten von Tetradrachmen Athen 144/143 v. Chr. Inv. Mü 773 (Abb.) und von Bronzemünzen Athen 255–267 n. Chr. Mü 1344 (Abb.) zeigen Apollon im rechten Profil bei geringfügiger Rückansicht. Die Übereinstimmungen mit dem Apollon Typ Kassel lassen darauf schließen, dass dieser Statuentypus dargestellt ist (zuletzt zustimmend Herzog 1996, eher ablehnend Mosch 1999). Auf attischen Tetradrachmen von 144/142 v. Chr. sowie auf Bronzemünzen von ca. 150–175 n. Chr. und von ca. 255–267 n. Chr. sind Apollines mit etwa gleichen Handhaltungen und Attributen, aber in anderer Ponderation und Ansicht (Körper in Vorder- bzw. in rechter Dreiviertelansicht, rechtes Standbein, linkes Spielbein in rechtem Profil) wiedergegeben. Numismatisch wie archäologisch bleibt umstritten, ob diese Münzbilder von dem kathartischen Übelabwehrer eine Figur oder zwei Figurentypen wiedergeben und auf welches statuarische Vorbild sie zurückzuführen sind. Besonders in Betracht kommen zwei berühmte, schriftlich überlieferte Athener Statuen, Apollon Alexikakos von Kalamis (tätig ca. 470–445/430 v. Chr.) und Apollon Parnopios von Pheidias (tätig ca. 460/450–420/410 v. Chr.). Die eine Hypothese – diese beiden Bildtypen hellenistischer und römischer Zeit geben anlässlich historisch verifizierter Pestepidemien in Athen den Apollon Alexikakos von Kalamis wieder – führt zu den Folgerungen, dass dieser Apollon nach 430 v. Chr. zu datieren ist oder eine ältere Statue von Kalamis erst 430 v. Chr. diesen Beinamen erhielt und somit eine Identifizierung mit erhaltenen Apollonfiguren nicht vertretbar erscheint (Mosch 1999). Die andere Hypothese – diese beiden Münzbildtypen geben zwei unterschiedliche statuarische Vorbilder frühklassischer Zeit (Kasseler Apollon, Omphalos-Apollon) wieder – stützt sich darauf, dass diese wiederholt und gleichzeitig verwendeten Bildtypen berühmte statuarische Kunstwerke zum Vorbild hatten und dass zumindest die exakte ikonographische Übereinstimmung des einen Münzbildtypus mit dem Kasseler Apollon gegeben ist (Herzog 1996). Der strafende, Verderben sendende und heilende, Übel beseitigende Apollon wurde im klassischen Athen zumindest in zwei berühmten Standbildern, in Notzeiten bei Plagen und Seuchen geweiht, verehrt. Die Nachrichten des Pausanias (1, 3, 4 und 1, 24, 8) bezeugen, dass er in der Prägeperiode der ersten Serie römischer Bronzemünzen (ca. 140/150–175 n. Chr.) die bronzenen Götterbilder in Gestalt des Apollon Alexikakos von Kalamis vor dem Tempel des Apollon Patroos auf der Agora und in Gestalt des Apollon Parnopios, Pheidias zugeschrieben, gegenüber dem Athena Parthenos-Tempel auf der Akropolis noch gesehen hat. Die archäologischen Identifizierungsvorschläge anhand ikonographischer und stilkritischer Argumente für die Benennung des Figurentypus und seines Künstlers haben mangels eindeutiger Befunde und unstrittiger Beweise auch keine zweifelsfreie Bestimmung gebracht. Die numismatisch wie archäologisch weniger gesicherte Gleichsetzung mit dem Alexikakos von Kalamis lässt die hypothetische Identifizierung des Kasseler Apollon mit dem Apollon Parnopios von Pheidias etwas plausibler erscheinen (Schmidt 1966, zuletzt Strocka 2004).

(Gercke 2007)



Literatur:
  • Bieber, Margarete: Die antiken Skulpturen und Bronzen des Königlichen Museum Fridericianum in Cassel. Marburg 1915, Kat.Nr. 1.
  • Savoy, Bénédicte: Patrimoine annexé: Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800. Paris 2003, S. 26, Kat.Nr. 32.
  • Gercke, Peter; Zimmermann-Elseify, Nina: Antike Skulpturen und Neuzeitliche Nachbildungen in Kassel. Bestandskatalog. Mainz 2007, S. 44-50, Kat.Nr. 4.
  • Settis, Salvatore: Serial / Portable Classic: Ancient Greece to Modern Europe, S. 221, Kat.Nr. SC 39 (R. Splitter).


Letzte Aktualisierung: 10.11.2023



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