|<<   <<<<   13 / 160   >>>>   >>|

Athena Lemnia Typ Dresden-Kassel



Athena Lemnia Typ Dresden-Kassel


Inventar Nr.: Sk 2
Bezeichnung: Athena Lemnia Typ Dresden-Kassel
Künstler / Hersteller: Pheidias (479 BC - 432 BC), Kopie nach
Datierung: 160 - 170 n. Chr. (Kat. Kassel 1991)
Datierung:um 440 v. Chr. (GND: 4093976-5)
weitere Datierung:160 - 170 n. Chr. (Kat. Kassel 2007)
Objektgruppe: Skulptur
Geogr. Bezüge: Römisches Reich
Material / Technik: Weißer, feinkristalliner Marmor, besonders transluzent
Maße: Torso (linker Oberarm bis Oberkante Plinthe) 174 cm (Höhe)
Provenienz:erworben 1777 durch Landgraf Friedrich II. in Rom von T. Jenkins bzw. General Johann Ludwig Graf von Wallmoden-Gimborn


Katalogtext:
Der etwas überlebensgroße Torso ist zu einem Standbild der Helm und Lanze haltenden Athena zu ergänzen. Drei maßgleiche Körperrepliken (darunter eine Statue), vier Einzelköpfe und fünf Gemmenbilder (Büsten) sind bisher bekannt. Die Bezeichnung Typus Lemnia hat A. Furtwängler 1891 eingeführt, als er plastische, bildliche und schriftliche Überlieferungen zusammenführte und diese bedeutende hochklassische Götterfigur rekonstruierte.

Athena steht aufrecht und ruhig, das linke Spielbein nur wenig zur Seite und den Fuß etwas zurückgesetzt. Chiastisch ponderiert hat sie die rechte Schulter mit anliegendem Oberarm gesenkt und die linke Schulter der Spielbeinseite mit horizontal zur Seite gestrecktem Oberarm angehoben. Mit der angewinkelt vorgestreckten rechten Hand hält sie dem Betrachter einen korinthischen Helm entgegen. Die linke erhobene Hand umfasst eine Lanze, die sie vor ihrem Spielbeinfuß aufgestellt hat. Barhäuptig wendet sich die Göttin entschieden der Standbeinseite zu und blickt in Richtung auf den Helm. Das jugendliche Anlitz mit kräftigem Mund, energischem Kinn und eher kleinen Augen wird von dem fülligen, fein gewellten und von einer breiten Binde gehaltenen Lockenhaar gerahmt.

Die Göttin trägt den Peplos mit langem Überschlag und eine Schrägägis. Bis auf den kleinen spitzen Büstenausschnitt, den schmalen geraden Nackenausschnitt und die typisch entblößte linke Achselpartie ist Athenas Körper vollkommen bekleidet. Hochplastische und dicht gereihte Vertikalfalten des Peplos umschließen säulenhaft die Standbeinseite. Der Saum des Überschlages endet weitgehend freiplastisch unterschnitten und im eigenen Faltenduktus. Einige bogige Zugfalten verdeutlichen die Bewegung des Spielbeines mit dem vorgestreckten Knie und zurückgesetzten Fuß. Der untere Gewandsaum stößt am Boden auf und bildet verstärkt über den Fußristen kleine Stau- und Knickfalten; nur die Fußspitzen werden sichtbar. Athena trägt Sandalen, auch die des Spielbeinfußes liegt anscheinend flach mit ganzer Sohle auf. Auf der rechten Seite zeigt ein schmaler Spalt zwischen den beiden Zickzackfalten der Gewandränder die Stoßfuge des seitlich offenen Peplos an.

Die schuppige Ägis mit kurzen Schlangen ist an ihren beiden Zipfeln auf der rechten Schulter geknotet, schräg über Brust und Rücken gelegt und erreicht an der linken Taille und Hüfte ihre größte Breite. Der obere glatte Rand liegt eng am Körper an und staut den Peplos im Bereich der linken Brust und Achsel. Der untere partiell sich wellende Rand zeigt die Fellunterseite mit rissig ledriger Struktur. Er ist vorn und hinten in je sechs flache Bögen geschnitten. Die Zacken zwischen ihnen laufen in stark bewegte kurze Schlangen mit teils freiplastischen Köpfen aus. In der Taille sind Peplos und Ägis mit einem Schlangengürtel straff zusammengehalten. Wie die Ägis auf der Schulter ist der Gürtel mit einem Heraklesknoten geschlossen. Den Charakter eines gepanzerten Körperschutzes veranschaulichen die dicke, sperrig sich wellende Ägis mit wulstigen Falten und ihre dicken, dachziegelartig sich überlappenden Schuppen. Einen weiteren wirksamen Schutz gewährt der Göttin das in ihrer Herzgegend auf der Ägis befestigte Haupt der Medusa Gorgo. Das Gorgoneion gewinnt sein furchterregendes animalisches Aussehen durch wulstige Lippen, die bleckende Zunge auf der Unterlippe, breite Nasenflügel und schwere Oberlider unter wulstigen Brauen und vor allem durch sein scheitelloses wirres Haar, dessen Lockenbüschel nach oben und zu den Seiten züngeln.

Der chiastischen Körperponderation entsprechen Bildelemente, welche die raumgreifende Komposition ausbalancieren: schließend auf der entlasteten Spielbeinseite durch den erhobenen linken Arm und die schräg zum Fuß der Figur zurückführende steil aufgestellte Lanze – öffnend auf der Standbeinseite durch die Kopfwendung mit Blickrichtung auf den dargebotenen Helm.

In der Kopienkritik der etwa maß- und motivgleichen Statuenkopien hat der Kasseler Torso lange Zeit eine abwertende Einschätzung erfahren. Beim detailgenauen Vergleich anhand neuer Gipsabgüsse konnte 1991 das pauschale Urteil erstmals geprüft und revidiert werden (Weber 1991). Die beiden Dresdner Repliken erweisen sich als bildhauerisch vereinfachte Ausführungen in der Wiedergabe der Gewänder (Stege, Täler, Bögen der Falten), der flach bis schematisch gravierten Ägisschuppen und des Gorgoneion. Beide geben den Peplos nicht bodenlang sondern etwas kürzer und begradigt wieder, dabei Faltenmotive abrupt negierend und Zipfel abschneidend; beim verstärkt vereinfachenden Torso Hm 50 steht der Peplossaum hinten noch in Bosse, bei der Statue Hm 49 ist er keilförmig abgearbeitet und der Spielbeinfuß vorn abweichend tiefergelegt. Die höhere Bewertung der einfacher bis schematischer gearbeiteten Dresdner Repliken war mitbestimmt von der Vorstellung, das Original sei auf eine Weihung lemnischer Kleruchen um 450 v. Chr. zurückzuführen und gehöre stilgeschichtlich in vorparthenonische Zeit. Der Kasseler Torso jedoch übertrifft die reduzierenden Dresdner Kopien in plastischer Modellierung und stärkerer Differenzierung gerade in den ihnen gemeinsamen Motivelementen. Die qualitativ aufwendigere Ausführung kann sowohl einem antoninischen Kopistenatelier als auch einer detailgetreueren Wiedergabe des toreutischen Originals zugeschrieben werden; für eine ehemals angenommene vollständige Umarbeitung und gekünstelte Hinzufügungen jedenfalls fehlen der Kasseler Replik kopistenspezifische Indizien. Trotz des beklagenswerten Zustandes ist der Torso bei der stilkritischen Rekonstruktion dieses Figurentypus stärker zu berücksichtigen.

Die neu erschlossene, aus antiken Quellen dokumentierte Helmhaltung und somit die Charakterisierung als Athena Ergane erscheinen überzeugend (Steinhart 2000). Damit wird der früher vermutete Anlass einer um 450 v. Chr. zu datierenden Kleruchenweihung und demzufolge die erwogene Anlehnung an ältere Stiltendenzen hinfällig. Zugleich gewinnt die Identifizierung dieses Figurentypus als helmhaltende Athena Ergane mit der von Pausanias beschriebenen, von Lemniern gestifteten Athena des Pheidias im Bereich der Propyläen auf der Akropolis gewichtige neue Argumente: Formgeschichtlich und konzeptionell steht der Figurentypus unter Berücksichtigung des Kasseler Torsos durchaus im Einklang mit den bildhauerischen und motivischen Neuerungen parthenonischer Kunst, in Tracht und Gewandstil mit Figuren des Ostgiebels und des Westfrieses. Motivgeschichtlich und mythologisch ist dieses Weihgeschenk sowohl für Athen als auch für Lemnos besonders bezeichnend. Barhäuptig einen damals nur noch der Repräsentation dienenden korinthischen Helm offerierend wird Athena Ergane als altbewährte Beschützerin der Arbeit und des Handwerks vorgestellt. Zugleich scheint ihre göttliche Partnerschaft und besondere Beziehung zum genialen Künstler und Waffenschmied Hephaistos auf, der auf der vulkanischen Insel Lemnos beheimatet an der Athener Agora mit ihr seine bedeutendste Kultstätte hat. Den Vorschlägen, andere Figurentypen mit der Lemnia zu identifizieren – Athena Typ Medici (Harrison 1996) oder Athena Typ Fier/Berlin/Richmond (Meyer 1997) – mangelt es an motivischen und mythisch-aitiologischen Indizien für eine lemnische Weihung. Die neue ikonographische Interpretation des Figurentypus Dresden-Kassel als Ergane bestärkt die Gleichsetzung mit der pheidiasischen ›Lemnia‹.

(Gercke 2007)



Literatur:
  • Bieber, Margarete: Die antiken Skulpturen und Bronzen des Königlichen Museum Fridericianum in Cassel. Marburg 1915, Kat.Nr. 2.
  • Savoy, Bénédicte: Patrimoine annexé: Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800. Paris 2003, S. 16, Kat.Nr. 15a.
  • Gercke, Peter; Zimmermann-Elseify, Nina: Antike Skulpturen und Neuzeitliche Nachbildungen in Kassel. Bestandskatalog. Mainz 2007, S. 51-55, Kat.Nr. 5.


Letzte Aktualisierung: 15.04.2024



© Hessen Kassel Heritage 2024
Datenschutzhinweis | Impressum